Donnerstag, 20. November 2008

Zwei Monate unterwegs in Nepal


Gokyo Ri
Originally uploaded by hobbes_ch
„Haaa haaa haaaa“ lacht es von den Bäumen. Ein nepalesischer Raabe scheint uns lautstark auszulachen. „Haaa haaa“, schon wieder. „Was wollt denn ihr hier im Himalaja?“. Dabei amüsiert er sich köstlich und vielleicht hat er sogar recht. Was wollen wir eigentlich hier oben in dieser für den Menschen so feindseligen Umgebung. Dem Raben scheint die Höhe nichts anhaben zu können. Noch auf über fünftausend Metern Höhe werden wir diesem Vogel begegnen und fast immer wir er unser Tun genau im richtigen Moment kräftig verhöhnen. Zum Beispiel wenn ich den falschen Weg einschlage, oder Papa über eine Wurzel stolpert. „Hahaaa ihr Deppen!“.

Der Schweiss klebt uns die Kleider an den Leib. Zikaden schreien ihr monotones Lied. Wie das Geräusch einer singenden Turbine. Nepalesische Turbinen-Käfer. Und überall Bananen und Reis. Reis, Reis und wieder Reis. Die ganzen Hänge sind voll davon. Wer soll denn das alles essen?

Keine Berge. Schon gar kein Schnee. Nur grüne Hügelketten, zu sanften Stufen gemeisselt und mit Reis bepflanzt. Als hätte Yeti für sich riesige Treppen in die Landschaft gehauen und danach einen essbaren Rasenteppich über die Stufen gelegt. Sie leuchten goldgrün im Abendlicht und wirken wunderbar weich. Man hat das Verlangen mit der Hand darüber zu streichen und das weiche Grün hautnah zu erleben.

Bald werde ich mich nach den warmen, sauerstoffreichen Gebieten des Annapurna zurücksehen. Dann, wenn ich in viereinhalb tausend Metern Höhe schlotternd die Nacht verbringe, weil der mitgebrachte Migros-Schlafsack für Himalajas Höhen einfach nichts taugt. Doch davon bin ich noch ein paar Wochen entfernt. Ein paar Wochen, mit unzähligen Erlebnissen und Eindrücken gefüllt, die jegliche Form eines übersichtlichen Reiseberichts sprengen. Ein paar Wochen zusammen mit meinem Papa Rodolfo, den ich auf dieser eindrücklichen Tour begleiten durfte. Ich versuche zusammen zu fassen um nicht ins uferlose Meer des Erzählens hinaus zu driften. Die Nepal-Erfahrung ist jedoch mächtig und nur schwierig in Worte zu fassen.

Die Unendlichkeit zum greifen Nahe
Auf dem Dach der Welt zu stehen und die weissen Ziegel gleissend, übermächtig und scheinbar greifbar vor einem ins tiefe Mittagsblau ragen zu sehen gehört mit Sicherheit zu einem der letzten Abenteuer dieser Welt. Wobei ich mir beim schreiben dieses Satzes gerade selber bewusst werde, das ich schon einige dieser letzten Abenteuer erleben durfte, seit ich im Mai 2007 zu meiner Weltreise aufbrach. Irgendwie verfolgen sie mich, die letzten Abenteuer und ich kann noch nicht einmal behaupten, das mir dies ungelegen kommt. Trotzdem: Nepal ist etwas ganz besonderes. Es sind die Gegensätze die es mir so schwer machen das erlebte zu beschreiben. Der Himalaja ist gleichzeitig wunderschön und doch auch beängstigend, zauberhaft und im selben Moment gefährlich. Als Mensch komme ich mir darin winzig und verloren vor. Dann doch wieder aufgehoben und freundlich begrüsst. Ich stehe am Fusse eines Riesen, der mit seinen gewaltigen Augen auf mich herab starrt und mich in seine Hand nimmt. Er könnte mich zerdrücken wie eine Fliege, oder mich den atemberaubenden Anblick von seinen Schultern aus geniessen lassen. Dank dem er acht Wochen gnädig war, bin ich schliesslich doch noch fähig einen Bericht zu schreiben.

Man ist fast gezwungen Vergleiche und Metaphern für die gigantische Höhenkette zu finden. Zu mächtig ist der Eindruck. Vielleicht vergleichbar mit einem sommernächtlichen Sternenhimmel. Auch hier lässt einem die Übermacht der Sterne keinen Ausweg sich klein und hilflos vorzukommen und gleichzeitig fasziniert zu sein, von der Grösse und Schönheit des Anblicks. Umgeben von Achttausendern die ihre weissen Klauen weit ins dunkle Blau krallen ist das Gefühl ganz ähnlich. Jedoch sind die Ränder der Empfindungen im Himalaja schärfer und intensiver, da die Protagonisten dieses monumentalen Schauspiels greifbar und allgegenwärtig um einem herum stehen. Eingekreist im Horizont der Riesen wird der Eindruck verstärkt und brennt sich deutlich ins Gedächtnis. Dazu kommt die spürbar dünne Luft, die auf einer anderen Empfingungsebene mitwirkt. Trunken vom Sauerstoffmangel spielt uns der Kopf so manchen Streich und selbst nachts durchfahren uns wilde Träume und gönnen uns keine Pause. Himalaja nonstop. Ach Wochen lang.

Wie alles begann
Vor einiger Zeit standen zwei, zwar nicht einsame, aber doch Wanderer, auf halber Strecke zwischen Kathmandu und Beshishar. Nachdem ihr Reisegefährt, ein hier üblicher Kleinbus, ganze drei mal zusammen gebrochen und wieder geflickt worden ist, war beim vierten Zwischenfall dann doch das vorzeitige Ende der Busfahrt erreicht. Ein Unfall soll sich vor uns ereignet haben. Ein Mann sei dabei umgekommen und die Polizei liesse niemanden mehr durch. Totalsperre. Wir sind noch zweiundvierzig Kilometer vom Ausgangspunkt unseres Annapurna-Treckings entfernt, was wir aber zu diesem Zeitpunkt nicht wissen und kurzentschlossen los marschieren. Vorbei am unsichtbaren Unfall und ein paar sichtbar Trauernden.

Das Glück schien mit den Unwissenden gewesen zu sein, denn Papa und ich erreichten dank einiger glücklicher Zufälle doch noch den Ausgangspunkt unserer Wanderung, ohne die ganzen zweiundvierzig Kilometer marschieren zu müssen. Wir beschliessen die bisherigen Ereignisse nicht als schlechtes Omen zu nehmen, sondern eher als eine missglückte Generalprobe, die ja bekanntlich eine hervorragende Premiere nach sich zieht. Und tatsächlich, die Premiere verlief erfolgreich! Die ersten Trecking-Tage im Annapurna-Gebiet sind zauberhaft und intensiv.
Eigentlich ist es ja auf dieser Höhe, weit unter tausend Metern, noch gar kein richtiges Trecking. All die Bananen und Reisfelder, das ganze tropische Grünzeugs und die nicht existenten weissen Bergspitzen lassen keine wirkliche Hochgebirgs-stimmung aufkommen. Das ganze scheint eher so etwas wie ein Asien-Spaziergang für Rentner zu sein. Trotzdem hat auch dieser erste Abschnitt seinen besonderen Reiz. Wir ziehen eine ganze Menge Tiere an während wir so durch die grünen Wälder und Felder stapfen. Schmetterlinge, Grashüpfer, lachende Raben, Blutegel und Stechmücken. Letztere hauptsächlich ich und mit entsprechenden Nebenwirkungen. Die Hitze auf dieser moderaten Höhe macht uns ziemlich zu schaffen. Wir verdunsten literweise Tee, Cola und Wasser ohne das wir je das Gefühl haben wirklich durstfrei zu sein. Kaum zu sich genommen, dampfen die Getränke in den nächsten Minuten auch schon wieder durch unsere Poren und verschafft unseren Tshirts diese prächtige, feuchtklebrige Konsitenz.

Mit Papa unterwegs zu sein klappt erstaunlich gut. Wir waren ja beide schon mit einigem Respekt an die Sache heran gegangen. Schliesslich ist es nicht ganz ohne, zwei Monate mit seinem Vater unterwegs zu sein. Besonders nachdem seit unseren letzten gemeinsamen Ferien doch mehr als vierundzwanzig Jahre vergangen sind. Aber eben: Trotz vorsorglich von Freunden empfohlenen Notfall-Plänen (Ruedi sei Dank!) ging alles ganz gut. Ich erfuhr eine Menge über meine Verwandtschaft und ihre Geschichte. Vor allem über meinen Grossvater erzählt mir Papa eine Menge spannender Dinge. Es ist faszinierend seine eigenen Sippengeschichte erzählt zu kriegen, noch dazu in Nepalesischen Höhen.

Papa und ich merken auch schon bald, das wir den gleichen Humor haben und dies auch oft unsere ganze Umgebung spüren lassen. Auch wenn wir damit manchmal etwas gar aus dem Rahmen fallen, was von unseren Mit-Treckern jedoch freudige begrüsst wird.

Eine Grenze auf zweitausend Metern Höhe
Während Papa und ich unsere Familiengeschichte aufarbeiten, frisst sich der vor uns liegende Weg konstant weiter in die Höhe. Den zeitweise steilen Hängen entlang, durch Flusstäler, Mischwälder und die bereits vertrauten Terassenfelder. Höher und höher. In zweitausend Metern ist eine magische Grenze erreicht. Die Vegetation ändert sich plötzlich. Die Laubbäume werden immer mehr von Nadelbäume verdrängt und die Vegetation lichtet sich. Wüssten wir es nicht genauer, wir hätten wohl oft das Gefühl wir befinden uns in der Schweiz. Einer Schweiz ohne Strassen und mit erstaunlich vielen nepalesischen Gastarbeitern.

Rund eine Woche nach dem Start entdecken wir am Horizont die ersten weissen Bergriesen. Auch wenn sie noch viele Kilometer weit entfernt sind, lassen sie doch jetzt schon erahnen, wie überdimensional sie in der Landschaft stehen und wer hier die wahren Stars des Annapurna-Gebiets sind.

Langsam macht sich die Höhe nicht nur in der veränderter Vegetation, sondern auch in unseren Lungen bemerkbar. Steile Steigungen sind plötzlich nur noch mit deutlichem Keuchen und entsprechender Anstrengung zu bewältigen. Und mit jedem Meter den wir höher kriechen scheint dies deutlicher zu werden. Wie alte Dampflocks schnaufen wir dem Weg entlang und dabei haben wir erst die halbe Zielhöhe erreicht. Wir können uns kaum vorstellen, wie es erst auf fünftausend Metern Höhe sein wird.

Tausend Meter höher. Nur noch Nadelbäume säumen unseren Pfad. Wir erreichen einen berauschenden Ort, das Heavens Gate. Die Willkür der Natur hat hier eine riesige Rampe in den Berg gefräst. Die völlig glatt geschliffenen Berghänge wölben sich surrealistisch vor uns in die Höhe und bilden einen geschwungenen Sattel der das ganze Tal einfasst. Es scheint als bilde dieses Gate auch das Tor zum eigentlichen Himalaja. Schon kurz danach werden die Hänge deutlich kahler. Doch vor wir die grünen Wälder endgültig verlassen, lernen wir Ursi und Bruno kennen, zwei lustige Schweizer Weltenbummler, die wir in den kommenden Wochen noch oft und freudig wiedersehen werden und mit denen wir so manches Trecker-Erlebnis teilen dürfen. Von ihnen erfahre ich auch einige Tipps für Australien und Thailand. Unter anderem erzählen sie mir von ein paar traumhaften Bungalows auf der Insel Ko Yao Noi und wie es der Zufall will, sitze ich während dem Tippen dieses Reiseberichts auf der Veranda eben eines dieser Bungalows.

Das letzte grosse Dorf das wir vor dem Eintritt in den höheren Himalaja noch Besuchen ist Manang. Ein ganzes Dorf aus Stein. Jedes Haus wurde sorgfältig, mörtellos aus handgehauenen Steinen geschichtet und mit Wellblech bedacht. Der Anblick stammt wie aus einem früheren Jahrhundert (mit Ausnahme des Wellblechs und der Solarpanel) und wir geniessen ihn gleich einen Tag länger, denn ab jetzt müssen wir uns erst an die viertausend Meter Höhe gewöhnen. Um der gefährlichen Höhenkrankheit AMS (Acute Mountain Sickness) vorzubeugen, dürfen wir pro Tag nur vierhundert Meter aufsteigen und müssen alle tausend Meter einen Aklimatisationstag einplanen. Viele ungeduldige Trecker haben ihre Ignoranz dieser goldigen Regel gegenüber schon mit dem Leben bezahlt. Auch wir werden in unseren zwei Monaten Himalaja Zeuge einiger Vorfälle. Unter anderem dem tragischen Tod einer Schweizer Treckerin, die auf rund fünftausend Metern Höhe krank wurde und noch in der gleichen Nacht verstarb.
Zum Glück bleiben Papa und mir schwerere Folgen der Höhenkrakheit erspart, wenn wir auch die Höhe ebenfalls ziemlich deutlich zu spüren bekommen. Bei mir wirkt sich die dünne Luft vor allem in wilden Träumen aus. In einer Nacht in Manang wache ich plötzlich hechelnd und mit rasenden Kopfschmerzen auf und habe das Gefühl einfach nicht genug Luft in meine Lungen pumpen zu können.

Der fast trunkene Zustand in der dünnen Luft hat aber auch angenehme Folgen. Mir kommen viele neue Gedanken und Ideen. So fühle ich mich plötzlich wie ein Gartenschlauch der in einer Wiese liegt und plötzlich unter Druck gesetzt wird. Da ihm niemand eine Richtung vorgibt windet er sich und schlägt wild um sich ohne seine Energie wirklich in eine Richtung zu lenken. Dieses Bild meiner selbst hilft mir vieles besser zu verstehen.
Auch denke ich in dieser Zeit viel über das Künstler-Dasein nach und was es bedeutet sich dem Chaos der Kreativität zu unterwerfen. Mir wird plötzlich bewusst, das die Welt die dem Ursprung der Kreativität entspricht auch Gefahren birgt, die ich bisher völlig übersehen habe. Gefahren die einem bis in den Wahnsinn treiben können, wenn man sie nicht ernst nimmt und sich entsprechend schützt. Die wahre Kunst scheint mir plötzlich darin zu liegen, dieses kreative Chaos in den Griff zu kriegen und mit sorgfältiger Auswahl den richtigen Teil heraus zu schälen, in Ordnung zu bringen und fest zu halten. Es ist jedoch eine ständige Gratwanderung die einen Künstler wohl ein Leben lang verzweifeln lassen kann. Auch wird mir bewusst, wie wichtig die Ordnung als solches ist. Das Wirken entgegen der Entropie die alles zurück ins Chaos zu stürzen sucht. Das in Ordnung bringen und halten. Gerade für Chaoten wie mich ist dies ein völlig neuer Aspekt, den erst die dünne Luft des Himalaja ans Licht treten lässt.

Papa wiederum kommt völlig erschöpft von einer Akklimatisationswanderung auf viertausend Metern zum Hotel in Manang zurück und wird sich für viele Tage nicht mehr richtig erholen. Eine Grippe in Kombination mit AMS-Symptomen rauben ihm einen grossen Teil seiner Kräfte und machen den vor uns liegenden Thorong-La Pass für ihn zur Qual.

Über den Grat des Thorong-La
Die vielen Wanderungen in bewaldeter Umgebung haben vorerst ein Ende. Ab viertausend Metern Höhe beherrscht Buschland in bunten Farben das Landschaftsbild. Im Kontrast zu den weissen Riesen, die nun deutlich vor uns in die Höhe ragen, ein fantastischer Postkarten-Anblick. Natürlich haben wir auch die üppigen Reisfelder und Bananenhaine längst hinter uns gelassen und fast schon vergessen. Bis vor kurzem waren noch das eine oder andere Maisfeld und auch ab und zu noch ein paar Apfelbäume zu sehen. Doch auch diese wurden immer mehr von Nadelbäumen und schliesslich nur noch farbigen Büschen verdrängt.
Selbst in dieser kargen Vegetation ist die Luft trotzdem noch mit üppigen und aromatischen Düften durchsetzt, die uns im kühlen Wind entgegen wehen. In der dünnen Luft scheinen die Düfte intensiver zu sein. Wir erklimmen die ständig höher steigenden Pfade, welche sich nun deutlich im grauen Fels abzeichnen. Eine helle Spur, brutal in den Hang getreten und ohne sichtbares Ende. Sie zieht sich immer weiter. Höher und Höher. Bis nach Thorong Pedi, unserer letzten Unterkunft vor dem mächtigen Pass.
Thorong Pedi muss mit dem doppelten Besucherstrom fertig werden, da sich sowohl die Überquerer dieser Seite, wie auch jene der anderen Seite des Passes hier treffen. Für uns heisst das ein paar ungemütliche Stunden in einem Massenschlag. Geschlafen wird sowieso nicht lange und morgens um vier brechen wir auf um den härtesten Teil unseres ersten Treckings in Angriff zu nehmen.

Noch im Dunkeln beginnen wir, mit Stirnlampen geschmückt, den mühsamen Aufstieg. Vor uns liegt der fast senkrechte Hang in welchem viele tanzende Lichtlein spielen. Sie gehören anderen Trecker die noch früher als wir gestartet sind. Der Aufstieg wird mit jedem Meter anstrengender. Ich hyperventiliere um genügend Luft in meine überlasteten Lungen zu pumpen. Beim Ausatmen gefriert die Luftfeuchtigkeit vor meinem Gesicht zur diffusen Wolke. Genauso wie das Wasser in meinem Trink-Beutel.

Papa ist verdächtig ruhig und will sich schon im ersten Teehaus zur Erholung hinlegen. Wir müssen jedoch weiter. Der Weg ist weit und uns bleibt nicht viel Zeit für die einzelnen Abschnitte. Wir kämpfen uns den vereisten Weg hinauf. Es ist bitter kalt so früh am Morgen. Meine Hände sind gefrorene Klumpen und meine Füsse verdienen auch nicht mehr das Prädikat warm. Ich habe das Gefühl, wenn ich meine Handschuhe jetzt ausziehe, fallen meine Hände einfach ab. Trotzdem erreichen wir die fünftausend Meter Grenze. Ich keuche und schnaufe wie ein Maultier, fühle mich aber sonst ganz ok. Papa ist etwas zurück gefallen und macht nicht wirklich einen glücklichen Eindruck. Langsam erscheint die Sonne am Horizont was uns neuen Antrieb gibt. Die tröstlichen, warmen Strahlen tasten über die östlichen Bergrücken nach meinen gebeutelten Fingern. Im Nu fühle ich den breiten Ameisenstrom durch meine Adern krabbeln, der mir die Rückkehr des Fingerspitzengefühls ankündigt.

In fünftausend dreihundert Metern Höhe bin ich sicher, nun müssten wir endlich den Pass erreichen. Weiche Kuppen vor uns scheinen deutlich das obere Ende zu markieren. Es kann gar nicht mehr höher gehen. Dies muss der letzte Buckel sein. Falsch! Kaum haben wir ihn erreicht, erscheint dahinter wieder ein neuer. Und in diesem frustrierenden Sisyphos-Spiel geht es weiter und weiter. Jedoch immer langsamer, denn ab dieser Höhe ist jeder Schritt eine Herausforderung für sich. Mit Aufbringen all meines Willens zwinge ich meine Beine dazu noch einen Schritt zu gehen. Und noch einen. Einen nach dem anderen. Immer weiter. Doch dann wollen sie nicht mehr. Sie kriegen einfach nicht genug Sauerstoff um meinen Rucksack und mich noch weiter in die Höhe schleppen zu können. Meine Lungen brennen in der kalten Luft. Mein Rucksack wird mit jedem Meter schwerer und schwerer und reisst mich zurück nach unten. Die Fehlende Luft scheint sich zum Ausgleich als Blei im Rucksack zu manifestieren. Vielleicht damit ich hier oben nicht abhebe. Hier wo ich schon so weit in den Weltraum rage und Gefahr laufe ins All zu fliegen. Um das ganze zu überdenken gönne ich mir eine kurze Pause.
Papa kämpft sich trotz seiner Grippe und Schwäche tapfer weiter. Es ist unglaublich anstrengend. Doch plötzlich, da: Ein paar Fähnchen und eine winzige Hütte tauchen vor uns auf. Steinhügel beweisen das wir es tatsächlich geschafft haben. Wir sind auf der unglaublichen Höhe von 5'416 Metern angekommen. Jetzt wo wir den Pass endlich erreicht haben, kommt er uns gar nicht mehr real vor. Sind wir jetzt wirklich oben? Nach all der Anstrengung könne wir es kaum fassen.

Die andere Seite
Der Abstieg vom Thorong-La ist schliesslich ein Abenteuer für sich, weil sich Papas Schwächezustand weiter verschlechtert hat und wir schliesslich gerade noch eine Hütte erreichen können, bevor es bedenklich geworden wäre. Doch nach einer erholsamen Nacht und einem Ruhetag im heiligen Ort Muktinath fühlt er sich etwas besser und wir können die Reise gefahrlos fortsetzen.

Zuerst widme ich mich aber noch dem Computer im lokalen Internet-Cafe, da ich unbedingt ein paar Mails verschicken will. Vor allem an die hübsche Israelin Liat, die ich vor dem Pass kennen gelernt habe.

Zwei von drei Computern sind jedoch nicht mehr funktionsfähig. Nach einigen Stunden Viren-Entferung und Reparatur laufen sie dann aber doch wieder und ich komme durch meine Aktion zu ein paar kostenlosen Surf-Stunden. Leider erlebe ich nach dem verlassen des Internet-Cafés (inzwischen ist es schon elf Uhr nachts) eine böse Überraschung. Mein Guest House ist dunkel und ziemlich verriegelt. Auch heftiges Klopfen und rufen hilft leidlich wenig. Es bleibt verschlossen und ich selber wie bestellt und nicht abgeholt in der dunklen Gasse zurück. Und hier oben ist es zu dieser Stunde nicht gerade warm! Mir bleibt nichts anderes übrig als zum Internet-Café zurück zu kehren und dort in einem Not-Bett zu übernachten.
Mit dem Thorong-La scheint sich auch die Landschaft völlig gewandelt zu haben. Von üppiger Vegetation ist auf dieser Seite des Gebirges nicht mehr viel zu erkennen. Einzelne Büsche zieren die ansonsten kahle Landschaft und selbst die spärliche Vegetation scheint ständig um ihr Dasein zu kämpfen. Die Gegend erinnert mich sehr an den Fernsehfilm „Tim Taler“, den ich in meiner Jugend mal gesehen hatte. Die vulkanische Insel, auf welcher der Film teilweise spielte, war der kargen Wüstenlandschaft hier sehr ähnlich. Bizarre, von Wind und Wasser in die Felsen gefressenen Strukturen lösen sich mit kahlen, kegelförmigen Hügeln ab. Durchs ganze Tal weht ein scharfer Wind. Ein zottiger Yak-Bulle trottet einsam auf der staubigen Strasse dahin. Er wirkt wie der letzte, ungeliebte Teddybär auf dem kahlen Gestell eines Totalausverkaufs.
Papa ist zwar nicht mehr ganz so krank wie auf dem Thorong-La, aber immer noch nicht wirklich im Vollbesitz seiner Kräfte. Auch ich lese mir irgendwo in einer Lodge auf halber Höhe einen Käfer auf, der mir üble Bauchkrämpfe und Magendarm-Beschwerden einbringt. Nach einigem hin und her beschliessen wir eine Etappe aus zu lassen und mit dem Bus eine Strecke zu überbrücken.

Der gewählte Allrad-Bus schaukelt kurze Zeit später bedenklich nahe am Abgrund entlang. Die schlechte Naturstrasse ist stellenweise abgebrochen, bis inexistent und zu allem Übel durch kürzliche Regengüsse auch noch verschlammt. So schlingert und schlittert der Bus dem senkrechten Abgrund entlang und wir wagen kaum zu atmen. Wenn es ganz kritisch wird steigt ein Helfer aus und signalisiert dem Fahrer wie viele Millimeter er noch vom kiesigen Rand des Abgrunds entfernt ist. Mein panischer Geist zwingt mich rasend schnell Statikberechnungen durchzuführen, die das Gewicht des vollbesetzten Buses, die Kiesstrasse, den Schwerpunkt und irgend eine Senkrechte beinhalten. Noch während ich das Risiko des Absturzes in die fünfzig Meter tiefe Schlucht abzuschätzen suche, schlingern wir an der gefährlichen Kurve vorbei und sind in Sicherheit. Nur um ein paar hundert Meter Weiter das Vergnügen aufs neue geniessen zu können. Nach einer subjektiv unendlich langen Fahrt haben wir's endlich überstanden und halten neben der heissen Quelle von Tato Pani.

Von den heissen Quellen von Tato Pani über tausend Stufen nach Goropani
Dank diesem waghalsigen Schachzug erreichen wir unser Tagesziel schon vor dem Mittag. Wir kriegen Zimmer in der besten Lodge am Ort welche uns mit herrlichem Essen und netten Zimmern verwöhnt. Die örtliche heisse Quelle, auf nepalesisch „Tato Pani“, was auch dem Ortsnamen entspricht, trägt ebenfalls sehr positiv zu unserem Wohlbefinden bei. Nach einem heissen Bad fühlen wir uns schon fast vollständig wieder hergestellt. Papa konnte inzwischen dank der umfassenden Hilfe einer netten und sehr lustigen Ärztin – ich hatte mit ihr scherzhaft beraten dass wir Papa vielleicht einfach ein Duracell-Zäpfchen verabreichen sollten, damit er wieder zu Kräften kommt – die richtigen Medikamente erstehen und fühlt sich nun auch schon wieder viel besser. Dies ist auch nötig, denn nach dieser kurzen Erholungsphase brechen wir auf Richtung Goropani.

Über tausende von Stufen, welche von Meter zu Meter zu wachsen scheinen, mühen wir uns zum Ort Goropani. Da wir kurzfristig beschlossen haben heute eine doppelte Etappe zu laufen, sind wir nicht gerade früh unterwegs. Ausserdem ist der strenge Aufstieg selbst für unsere inzwischen gestärkte Kondition ziemlich kräfteraubend und wir kommen nur langsam voran. Eigentlich wären die grandiosen Rhododendron-Wälder durch welche die steilen Stufen führen ein überwältigender Anblick. Mir sind sie in diesem Augenblick ziemlich egal, da ich lediglich möglichst bald eine heisse Dusche und ein umfangreiches Nachtessen geniessen möchte. Genug ist genug!

Endlich erreichen wir den Pass. Entgegen unseren Erwartungen geht es hier zu und her wie an einem sonnigen Winterwochenende in Sankt Moritz. Tausende Touristen bummeln durch die Gassen und jede Lodge scheint zu bersten. Hallo? Haben wir etwas nicht richtig mitgekriegt? Gibt es eine Bus-Verbindung in diesen Ort?

Stühleklauen und Parfümwolken in Goropani
Wir kriegen gerade noch das letzte Zimmer in unserem Wunsch-Guesthouse und können sogar noch zwei weitere Zimmer für ein paar Deutsche Mädels organisieren, die wir auf den letzten Wanderungen kennen gelernt haben. Mit ihnen feiern wir dann auch gebührend den erfolgreichen Aufstieg, wobei unsere Anwesenheit viel Unmut bei einer grossen Deutschen Reisegruppe verursacht. Nachdem wir lange Zeit an einem Tisch gesessen sind, kommt ein Vertreter dieses „Alpenvereins“ auf uns zu und meint nur schnippisch: „Also hier ist reserviert“. Ich will aufbrausen und um unser (Schweizerisches) Recht kämpfen aber Susi, eine der drei Mädels mein nur: „Ach bei so einem Alpenverein lassen wir doch Gnade vor Recht walten und suchen uns einen anderen Platz, gell?“. Dabei grinst sie mich breit an und ich kann ihr nur prustend recht geben. Kurzentschlossen packen wir zumindest die bisher benutzen Stühle und tragen sie zu einem Tisch nebenan, wo wir es uns wieder gemütlich machen. Das wird dann vom Alpenverein auch deutlich und bewusst hörbar mit Sätzen kommentiert wie: „So eine Frechheit. Die haben uns UNSERE Stühle geklaut“. Willkommen zurück in der Zivilisation.

Im touristischen Goropani sind auch noch viele andere interessante Kulturen zu beobachten. Am deutlichsten fällt eine grosse russische Trecker-Delegation auf, die mit einer Unmenge Gepäck – und dementsprechend auch einer Unmenge Trägern – angereist ist. Die holden Damen der Runde sind aufgeputzt als besuchten sie einen Gala-Dinner. Designer-Abendkleider, High-Heel Schuhe und schmucke D&G Handtäschchen. Ein ziemlich ungewohntes und auch etwas unpassendes Bild auf dieser Höhe. Das ganze wird von einer umfassenden Parfümwolke blumig ergänzt, die der russischen Gruppe eine nachhaltige Note verpasst. Wir riechen, grinsen und staunen.

Etwas später werden wir bei einer anderen Gruppe junger Russinnen die Gelegenheit haben etwas mehr über Russen in Nepal zu erfahren. Die Gruppe ist mit Victor unterwegs. So etwas wie ein Reiseleiter und einziges, auffallendes männliches Wesen in der Gruppe junger Russinnen. Victor erinnert mich sehr an den Film Nikita mit Jean Reno, der darin ebenfalls die Rolle des Victor spielte. Ein Profi-Killer, der immer gerufen wurde wenn es brenzlig wird.. Sein Motto: „Ich bin Victor, ich mache hier sauber!“. Unser Victor hier ist ebenfalls sehr freundlich und spielt hilfsbereit den Übersetzer. Ich frage die Russinnen, was die Russinnen denn von den Schweizern wissen. Zuerst grinsen sie nur und wollen gar nicht damit heraus rücken. Irgendwann traut sich dann doch eine: „Es gäbe da ein Buch über eine Brasilianerin von Paulo Cohelo. Es heisse „Eleven Minutes“ und handle von den Schweizern“. Ich will wissen was sich denn hinter dem geheimnisvollen Titel verberge. „Nun ja, die Brasilianerin behaupte, dass mit Schweizern immer alles nach elf Minuten vorbei sei. Für das seien die Schweizer nun in Russland berühmt“.

Am nächsten Tag bekommen wir die Ausmasse dieses plötzlich so überlaufenen Touristen-Ortes voll zu spüren. Zwischen hunderten anderer Wanderbegeisterten versuchen wir irgend wie einen normalen Gehrhythmus zu finden. Vor uns die russischen Tundra-Trotter die alle paar Meter stehen bleiben um Fotos von Sich, von Sich mit Freundin, von Sich mit Berg hinten dran, von Freundin mit Berg hinten dran und von der ganzen Gruppe zu machen. Natürlich mehrfach und abwechselnd, was bei einer Gruppe von dreissig Russen zu praktisch ständigen und umfassenden Stockungen führt. Hinter uns eine Herde spanischer Pamplona-Runner, denen es nicht schnell genug gehen kann, uns ständig fast auf die Schuhe treten und deutlich in Spanisch zu verstehen geben, warum wir denn dauernd stocken würden. Aber wir KÖNNEN ja auch nicht schneller gehen, weil die Tundra-Trotter vor uns erst ihre Fotos fertig schiessen müssen. Da wir aber kein Spanisch und die Spanier kein Englisch können, bleibt die Situation weiter gespannt und wir im dichten Rhododendron-Wald eingesperrt.

Das einzige was uns an diesem Morgen erspart bleibt ist der Deutsche Alpenverein. Vermutlich sitzen die immer noch beim umfassenden Frühstück und diskutieren die Umverschämtheit dieser beiden Schweizer die ihnen gestern IHRE Stühle geklaut haben. Wir wundern uns eh warum bei dem ganzen Völkergemisch keine Japaner dabei waren. Erst einige Stunden später, während des steilen Abstiegs, löst sich dieses Rätsel. Die Japaner kommen uns nämlich alle entgegen. Freundlich grüssend. „Namasteee, namasteee, namastee, namastee...“, bis die ganze, weiss behandschuhte Gruppe vorüber ist. Es scheint als machen die Japaner auf dem Annapurna einfach alles verkehrt rum. Und wie in so vielem dadurch vielleicht sogar besser als wir. Jedenfalls haben sie nicht mit Tundra-Trottern, Pamplona-Runnern und dem Deutschen Alpenverein zu kämpfen!

Kulturstudie im Himalaja
Weil wir gerade dabei sind: Im Himalaja prallen die verschiedensten Kulturen aufeinander und Multikulti-Zoo ist schon alleine einen genaueren Blick wert. Natürlich will ich hier nicht verallgemeinern und beschreibe nur rein subjektive und selbstverständlich übertriebene Eindrücke, die während der zwei Monate im Himalaja entstanden sind.
Da waren zuerst die eben beschriebenen Japaner, die einem immer sehr freundlich und mit lautem „namasteee“ begegneten. Stets eingewickelt in Tücher und meist eben mit netten weissen Handschuhen. Wie Dirigenten mit allerdings etwas wuchtigen Stöckchen. Zu den Mahlzeiten wurden sie von zahlreichen Guides bedient, welche ihnen einen netten Tisch, mit Tischdecke, Tellern, Besteck, Servietten und allem was in einem vornehmen Restaurant dazu gehört, bereiteten. Ihre Mahlzeiten bestanden aus einem breiten Mix von Zutaten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Aus diversen Plastikbeuteln und Bechern bereiteten sie sich Mahlzeiten auf Basis von kochendem Wasser. Die Zutaten, bestehend aus grünem Tang, roter Wolle, durchsichtigen Nudeln, gelben Fäden und vielen weiteren seltsam farbigen Dingen wurden dann darin gegart. All das direkt am Tisch und indem sie von der Küche nur die nötigen Frischprodukte wie Gemüse und eben heisses Wasser bestellten.

Die Deutschen gingen das Trecking - neben den Ergüssen des beschriebenen Alpenvereins - eher nüchtern und sachlich an. So beschwerte sich eine Treckerin bei ihrem Freund am Abend doch deutlich, „dass sie mit der Gesamtsituation nicht zufrieden sei“. Ein deutscher Trecker begegnete mir, als ich jubelnd vom Gipfel des Kala Pattar kam nur: „Das war ja noch gar nichts! Da solltest du mal sehen was weiter oben abgeht! Da gehts erst richtig los!“. Und natürlich trafen wir auch eine ganze Menge sehr angenehmer und lustiger Deutscher Trecker, wie zum Beispiel unsere drei Norddeutschen Mädels in Goropani. Nicht das hier ein falsches Bild entsteht!
Die Israelis beobachteten wir oft beim täglichen Abrechnungs-Ritual. Sämtliche konsumierten Speisen und Getränke einer israelischen Gruppe wurden dabei peinlich genau kontrolliert, den entsprechenden Konsumenten zugeordnet und von diesen verursachergerecht bezahlt. Meist ging dieses Ritual ziemlich lange und wurde von umfassenden Diskussionen begleitet.
Einige Israelis haben sich bei uns über ihren generell schlechten Ruf bei der lokalen Bevölkerung beklagt. Teilweise konnten wir die Auswirkungen sogar selber beobachten. Zum Beispiel als die attraktive Israelin Liat ein Zimmer einfach mit der Begründung nicht erhielt, es sei schon reserviert. Papa bekam das Zimmer aber sofort (und OHNE Reservation), als er einige Minuten später danach fragte.

Die Russen gehörten mit zu den spannendsten Erscheinungen des Himalaja-Tourismus. Für Hochgebirgs-Trecker konsumierten sie doch erstaunliche Mengen an Alkohol und Tabak. Eine russische Treckerin verriet uns dann auch, das sie mit dem Trecking gar nicht zufrieden sei: „Alles kaputt! Beine kaputt, Ferien kaputt, Geld kaputt. Scheiss Trecking! Und Massage? Nepalis nur winzig kleine Finger und machen nur kitzelkitzelkitzel!“

Über Spanier kann ich an dieser Stelle nicht viel sagen, da eine Unterhaltung mit ihnen nie stattgefunden hat. Sie trotten in abgeschlossenen Gruppen, in erstaunlicher Geschwindigkeit und meist ohne ein Wort nach aussen zu richten vor sich hin. Spanische Gruppen scheinen so etwas wie ein Schweigegelübde abzulegen bevor sie ihr Land verlassen. Irgendwie kamen sie mir ziemlich Spanisch vor.

Das Pure Gegenteil davon sind die Franzosen, die zwar vieles oft als eine Art Wettbewerb verstanden („Wieviel sait ihr heute gelaufän?“), aber sonst ganz gesellige Mittrecker waren. Genau wie die Holländer, mit denen wir die wohl umfangreichste Reisebekannt-schaft schlossen.

Was die Nepalesen betrifft war ich sehr positiv angetan von diesen äusserst freundlichen und liebenswerten Menschen. Zwar sind mir ihre Ansichten was Hygiene anbelangt doch etwas fremd – Spaghetti gehören nachdem sie auf den speckigen Küchenboden gefallen sind einfach nicht mehr zurück auf den Teller... jedenfalls nicht auf meinen! - aber man muss ja nicht alles einer fremden Kultur vollständig verstehen, oder?

Und wir Schweizer? Ich sage nur: „Eleven Minutes!“.

Das Ende und ein neuer Anfang
Nach diesen umfangreichen Kulturstudien machen wir uns auf den Weg weiter nach unten. Mit Goropani ist auch die Vegetation zurückgekehrt. Wir klettern und rutschen durch ausgedehnte Urwälder, oft aus riesigen Rhododendren bestehend. Noch nie habe ich solch grosse Rhododendren gesehen! Dazwischen wilde Schlingpflanzen und tief hängende Flechten. Der Wald ist so dicht, das wir uns darin verlaufen und nur dank Zurufen einiger weiterer Trecker – diesmal sind wir froh sind davon hier so viele unterwegs – wieder zurück finden.
Nach dem Urwald wiederholt sich die Landschaft wieder. Die Strecke vor dem Thorong La erscheint vor uns in reverser Ordnung. Erst Terassen mit Mais, dann Reis und immer mal wieder Apfelbäume. Die weissen Spitzen der Annapurna-Riesen verschwinden in der Ferne hinter uns. Der Kreis schliesst sich. Nur eines bleibt die ganze Strecke über gleich: Die Raben. Überall haben sie uns ausgelacht und selbst jetzt, wo wir zufrieden und glücklich in den Tiefen des Annapurna-Tals ankommen, finden sie das bestenfalls lachhaft und verhöhnen uns wieder einmal kräftig mit ihrem „Haaa haaaa“.

Ehe wir es versehen sind wir am Ende unserer Annapurna-Rundwanderung angelangt. Wir entspannen uns einige Tage in Phokara, einem schönen – wenn auch recht touristischen - Ort am See. Es kommt uns seltsam vor, nach all dieser Zeit in den Bergen wieder mitten in der Zivilisation zu stehen. Und noch viel mehr können wir uns noch nicht ganz vorstellen, das dies erst die Hälfte unseres Abenteuers war. Nochmals in die Kälte? Nochmals die ganzen Entbehrungen, all den Schweiss, die Anstrengungen, die dünne Luft? Klar, warum auch nicht! Auf ins nächste Abenteuer!

Mit Condra zum Mount Everest
Papa beschliesst für die zweite Tour einen „Porter-Guide“ zu engagieren. In seiner Funktion hat dieser Guide zum einen die Aufgabe uns den richtigen Weg zu weisen und uns auf alles nötige Aufmerksam zu machen, zum andern wird er Papas Gepäck tragen. Unser Guide „Condra“ kann das zweite sehr gut. Das erste dafür praktisch überhaupt nicht. Er entpuppt sich nach den ersten Tagen als leidlich unerfahren und seine mangelnden Englischkenntnisse machen die Kommunikation nicht ganz einfach. Meistens erwidert er auf unsere Fragen einfach nur „Papa... and you, you know,... no problem!“. Wir „wissen“ aber nicht und es ist manchmal durchaus „a problem“, was wir ihm aber nicht wirklich erklären können. Wie es das Schicksal so will, treffen wir jedoch schon bald auf das Holländische Pärchen Lenneke und Hans mit ihrem erfahrenen Guide Govinda, den sie nur den „General“ nennen. Seine Zackige Art hat ihm diesen Namen eingebrockt. Glücklicherweise ist er ist sonst aber sehr umgänglich und dazu auch noch äusserst gut informiert und professionell. Und vor allem: Er spricht Englisch und kann Condra unsere Wünsche übermitteln.

Die nächsten Tage sind wir also mit Lenneke und Hans unterwegs. Wir lachen viel und geniessen die entspannte Zeit zusammen. Anfangs wiederholt sich der Annapurna-Treck, was das Landschaftsbild anbelangt. Auch hier wandern wir durch eine beachtliche Zahl von Terassenfeldern mit Reis. Im Gegensatz zum Annapurna geht es jedoch gleich hinter Jiri kräftig rauf und runter. Nichts mehr mit gemütlichem Annapurna-Trotten. Hier gelten die harten Regeln des Mount Everest. Tausende Meter klettern wir rauf ums sie nur kurz hinter dem nächsten Pass gleich wieder hinunter zu stapfen. Rauf auf Deorali (2'710 Meter), runter auf Kinja (1'620 Meter), rauf auf den Lamjura La (3'530 Meter) und runter auf Junbesi (2'650 Meter). Und so weiter, bis Namche Bazar. Erst ab da geht es dann endlich nur noch rauf, was paradoxerweise angenehmer zu laufen ist.

Papa und ich halten uns auf dieser zweiten Wanderung ständig gegenseitig den Spiegel vor. Wir erkennen unsere Ähnlichkeit, aber nicht immer welche Aspekte davon wir selber und welche von unserem Gegenüber sind. Die innerfamiliäre Reflektion ist ungewohnt in dieser Intensität und manchmal schwer zu erkennen. So vieles scheinen wir gegenseitig in einander zu projizieren ohne es zu merken. Glücklicherweise geraten wir dabei nie wirklich aneinander und erreichen Namche Bazar ohne wesentlichen Streitereien. Die Notfallpläne bleiben weiterhin in der Schublade, beziehungsweise in der Rucksack-Aussentasche, und Papa und ich weiterhin gemeinsam auf dem Weg zum Gipfel. Und noch etwas interessantes stellen wir auf dem Weg nach Namche Bazar fest: Alle Katzen in Nepal sind grau!

Auf dem letzten Stück vor Namche Bazar treffen wir auf all die anderen Trecker die nicht wie wir hierher gewandert, sondern mit dem Flugzeug nach Lukla geflogen sind. Ab jetzt kämpfen wir mit einem unablässigen Strom von Everest Treckern, die so manche Herberge förmlich überfluten. Da es kein fixes Kontingent für Treckings ins Everest-Gebiet gibt, wird die Zahl der Besucher von nichts und niemandem reguliert. Sind sie erst einmal hier oben, bringt sie so schnell nichts mehr von hier weg. Bei schlechten Wetter können die Flugzeuge in Lukla nicht mehr starten. Wer dann hier oben fest sitzt, ist manchmal für Tage gestrandet. Mit hunderten anderer Nepal Trecker zusammen, die auch auf einen Flug warten.

Die übermässige Zahl der Trecker ist jedoch nur ein problematischer Aspekt. Es scheint, als sei in den letzten Jahren Trecken im Everest-Gebiet so etwas wie eine Trendsport geworden. Für Jedermann und Jedefrau. Egal in welchem Alter und in welcher körperlichen Verfassung. Wir haben Trecker beobachtet, die selbst für einfachste Übergänge - und erst recht für steile Abschnitte - fremde Hilfe benötigten. Manche Trecker mussten auf die Pässe förmlich getragen werden. Im lebensfeindlichen und nicht ganz ungefährlichen Himalaja ist solch eine Voraussetzung zumindest fraglich. Ein Treck im Himalaja ist kein Sonntagsspaziergang und schon gar keine Kaffeefahrt. Schliesslich gehen Nichtschwimmer auch nicht tauchen, oder?
Noch viel gefährlicher, manchmal sogar lebensgefährlich, ist das Verhalten grosser Trecking-Gruppen, deren Mitglieder teilweise mit dem strammen Tagesprogramm völlig überfordert sind. Dank Gruppendruck, Zeit- und Leistungszwang werden diese Trecker jedoch jeden Tag weiter in die Höhe geschleppt, bis sie manchmal entweder völlig zusammen brechen oder wenn es ganz schlimm kommt gar sterben. Auf fünftausend Meter Höhe ist dies leider schneller der Fall als vielen Treckern bewusst ist. Mit intelligentem und respektvollem Verhalten den Gefahren der wilden Bergwelt gegenüber hat dies jedenfalls wenig zu tun. Zu einfach ist es geworden die Höhen des Himalaja zu erreichen. Unsere Technik in Verbindung mit einer übermässigen und ignoranten Lust auf die letzten Abenteuer dieser Welt hat uns einen Streich gespielt. Einen gefährlichen Streich.

So stapfen wir also, neben hunderten anderer Trecker, weiter in Richtung Gokyo Ri, dem ersten Gipfel unserer Everest-Tour. Abgesehen vom übermässigen Besucher-Strom ist dieses Gebiet des Himalaja wirklich einmalig. Wir befinden uns mitten in den Achttausendern, allen voran dem gewaltige Mount Everest und seinem Bruder Lhotse. Noch fast mehr sind wir jedoch vom Ama Dablam fasziniert, der dank seiner eindrücklichen Form immer wieder deutlich ins Auge sticht. Wie das Matterhorn lugt er ständig irgendwo hervor.

In Macherma ist fertig lustig. Wir sitzen bei Minustemperaturen im Nebel. Über Nacht hat es sogar etwas geschneit und wir bürsten unsere Zähne im verzuckerten Innenhof unserer Schlafstätte. Der Nebel hängt tief im Tal und die Kälte fährt uns in die Glieder. Zusammen mit der Dünnen Luft eine wirklich unangenehme Mischung um morgens aus dem Schlafsack zu kriechen. Dabei ist gerade hier, auf der letzten Route vor dem Ort Gokyo, das Bergpanorama ganz überwältigend. Wir sind ob des dichten Nebels ziemlich frustriert, marschieren aber trotzdem tapfer los, einen steilen Stich hoch und über einen ersten Pass. Und plötzlich wird es hell. Durch ein kleines Loch im dunklen Grau scheint uns ein weisser Gipfel entgegen und verschwindet nach wenigen Sekunden auch schon wieder. Doch dann reisst der Himmel hinter unserem Rücken auf und präsentiert und das leuchtende Bild eines anderen Bergriesen. Auch dieser verschwindet sogleich wieder, nur um in einer anderen Ecke unseres Blickfeldes einem weiteren Protagonisten das Feld zu räumen. Es ist ein unbeschreibliches Schauspiel der Giganten. Eins ums andere werden sie sichtbar, die Riesen des Everest Massivs.

Wir klettern höher und erreichen Gokyo. Von hier werden wir morgen früh zum Gipfel Gokyo Ri aufbrechen. Leider ohne unsere holländischen Freunde. Lenneke verspürt seit heute Nachmittag immer stärkere Kopfschmerzen. Ein deutliches Signal der gefährlichen Höhenkrankheit. Unsere Freunde beschliessen am späten Nachmittag den Abstieg um ein paar hundert Meter und werden den Aufstieg morgen erneut versuchen.

Die Morgensonne kriecht gerade über den beigen Hang mit seinen leuchtend roten Büschen als wir zum Gipfel aufbrechen. Auch diesmal wird das Klettern über fünftausend Metern zur Qual. Da wir aber kein Gepäck dabei haben, fällt mir selber der Aufstieg trotzdem wesentlich leichter als auf dem Thorong-La. Schon nach verhältnismässig kurzem Aufstieg erscheinen am oberen Hang die farbigen Gebetsfahnen und markieren den Gipfel. Noch einmal tief durchatmen, kräftig in die Schuhe treten und es ist geschafft. Wir stehen zuoberst auf dem Gokyo-Ri auf 5'377 Metern. Hier geniessen wir die wohl atemberaubendste Aussicht des ganzen Everest-Gebietes. Das Bergpanorama der Giganten ist von hier in seiner vollen Pracht zu erkennen. Einer neben dem andern und einer höher als der andere. Jeder für sich würde einen Alpen-Gipfel wie ein Heinzelmännchen erscheinen lassen. Ja man würde ihn daneben nicht einmal erkennen, da wir auf unserem Aussichtsplatz schon einiges höher als die Spitze des Mont Blanc sind.

Zurück und dem Abgrund entlang
Wir müssen zurück. Und zwar ein ganzes Stück. Wir hätten zwar die Alternative über einen Pass Richtung Kala Pattar zu gehen, unserem nächsten und letzten Gipfel-Ziel, aber der Pass gilt als äusserst anstrengend und schlecht markiert. Ausserdem wären wir mehrere Tage über 4'500 Metern Höhe, was sich sowohl auf den Schlaf als auch auf die Konstitution ziemlich negativ auswirkt. So beschliessen wir statt dessen einen Umweg ins Tal und einen erneuten Aufstieg Richtung Lobuche in Angriff zu nehmen.

Der Anfang klappt gut. Wir erholen uns in den tieferen Höhen schnell von den Strapazen, geniessen nach Tagen endlich wieder einmal eine Dusche und machen uns erneut auf den Weg nach oben. Diesmal spielt sogar das Wetter mit. Die Herausforderung liegt jedoch im Weg. Kilometerlang führt er dem steilen Abgrund entlang und Geländer scheinen es offensichtlich noch nicht bis in diese Höhen geschafft zu haben. Wir müssen dem Abgrund endlang balancieren. Papa stapft wacker voran und ignoriert die hundert Meter die es neben ihm senkrecht ins Tal geht. Ich dagegen krieche schwitzend dem Fels entlang und weiss gar nicht wohin ich dabei meinen Blick richten soll. Auf keinen Fall nach unten!

Nach einigen Stunden ist es überstanden. Wir sind in Pangboche. Hier hat uns unser Guide Condra eine tolle Lodge vorgeschlagen. Er ist voraus geeilt um uns zwei Zimmer zu reservieren und will dort auf uns warten. Als wir bei der Lodge ankommen wartet nur Papas Rucksack auf uns. Condra ist verschwunden. Offensichtlich ist er zurück geeilt um uns entgegen zu eilen, hat uns aber verpasst. Schöne Bescherung! Irgendwann wird er uns schon wieder finden. Wir fragen also nach den zwei Zimmern und erleben eine nette Überraschung. „Yes sir, hundred and twenty dollar per room and night“. In den bisherigen Lodges hätten wir mit diesem Geld wohl ein halbes Jahr übernachten können! Offensichtlich gibt es auch in dieser Höhe noch ziemliche Klassenunterschiede. Wir verabschieden uns dankend grinsend und suchen uns nun selber ein Guesthouse. Für einen Bruchteil des Übernachtungspreises, versteht sich.

Condra findet uns tatsächlich irgendwann wieder und zusammen stossen wir immer weiter in die Höhen des Everest-Gebietes vor. Beim letzten Übernachtungsort Lobuche durchqueren wir die Gedenkstätte vieler verunglückter Everest-Besteiger. Mit Bestürzung betrachten wir die vielen Steintürme und Gedenk-Tafeln. Wieder wird uns bewusst wo wir uns eigentlich befinden. Wir verlassen diese triste Stätte bald und erreichen Lobuche. Leider hat Condra uns hier nur zwei Zimmer in der wohl schlechtesten Lodge des Ortes reservieren können. Ein Bretter- und Wellblechverhau mit einer albtraumhaften Toilette. Das Gebäude scheint bei jedem Schritt durch den Gang zusammen zu brechen. Der nächtliche Wind findet im Verhau reichlich Löcher durch die er in unsere eh schon kalten Schlafsäcke fahren kann und das Essen ist nicht gerade überwältigend. ABER, wir sind unglaublich nahe am Mount Everest und der Blick durch das dürftige Fenster auf den Achttausender lassen uns selbst die widrigstes Umstände vergessen.
Nach einer kalten, knarrenden Nacht brechen wir in den frühen Morgenstunden zum Gipfel auf. Heute werden wir den höchsten Punkt unserer zweimonatigen Himalaja-Tour erreichen. Den Kala Pattar. Diesmal beginnt die Besteigung des Gipfels freundlich. Ein sanft steiender Pfad über einen sonnigen, mit bräunlichem Gras bewachsenen Bergrücken weist uns den Weg zum Gipfel. Wir passieren die fünftausend Meter Grenze ohne wesentliche Schwierigkeiten und sehen auch schon weit oben die Gebetsfahnen des Gipfels. Doch nun wir der Weg steiler und die Felsen darauf immer grösser. Bald ist es mehr Klettern als Wandern und das auf einer Höhe in der schon jeder Schritt eine Herausforderung ist. Interessanterweise macht mir diesmal jedoch die Höhe nichts aus. Im Gegenteil, ich verfalle halb einem Höhenrausch. Ich will nur noch da rauf und anstatt langsamer zu werden beschleunigt mein Körper das Marschtempo. Kraxelnd und hetzend strebe ich dem Gipfel entgegen. Meine Lungen scheinen zu explodieren doch ich spüre sie gar nicht mehr. Ich bin gefangen im Rausch. Ich sehe nur noch den Gipfel und klettere immer weiter. Über glatte graue Felsen. Ich keuche dampfend vor mich hin. Die Luft ist hier trotz des Sonnenscheins bitter kalt. Die Gebetsfahnen kommen näher. Ich kriege kaum noch Luft, gebe aber nicht auf. Weiter. Nur noch ein paar Meter. Und ehe ich es mir wirklich bewusst werde bin ich auch schon oben und kollabiere fast. 5'646 Meter. Unglaublich! Langsam sehe ich wieder klarer und erblicke den riesigen Mount Everest vor mir. Zusammen mit seinem weissen Bruder Lohtse beherrscht er die Szene und lacht mir mit seiner schwarzen Spitze entgegen. Wir haben es geschafft! Wir sind oben! Höher als wir je waren. Näher am Himmel als je zuvor. Wir sind Glücklich es geschafft zu haben. All den Strapazen und Widrigkeiten getrotzt zu haben. Es zusammen und gesund feiern zu können. Was für ein Erlebnis. Was für ein Anblick. Ja wir sind glücklich! Und wir sehen einen Raben. Er gleitet geschickt im Aufwind dahin und bewegt sich kaum. Und er schweigt.

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