Im Ashram
Eine Wolke Schmetterlinge hüllt mich ein als ich den Jeep verlasse. Sie führen mich geradewegs zu einem überwachsenen Tor auf dem „Phool Chatti Ashram“ steht. Zikaden zirpen ihr aufdringliches Lied welches sich immer wieder bis zu einem Crescendo aufschwingt, dann eine Kurze Pause einnimmt, nur um das sich ewig wiederholende Konzert von neuem zu beginnen. Etwas weiter weg hört man deutlich das Rauschen des Ganges welches nur von gelegentlichen Vogelschreien übertönt wird.
Ich betrete den Innenhof der Anlage. Überall stehen Topfpflanzen. Ein grüner Garten, eingerahmt von leicht renovationsbedürftigen Mauern. Und renoviert wird gerade, wie ich dem Hämmern und Schleifen, Bürsten und Malen entnehme. Bald beginnen die öffentlichen Yoga-Kurse. Da will man vorher nochmals alles piekfein herausputzen.
Das Ashram erweckt den Eindruck einer freundlichen Pension mit riesigem Garten, der aber so dicht mit Bäumen besetzt ist, dass er nahtlos in die Umgebung übergeht. Nur getrennt durch eine niedere Mauer. Dahinter ragen steile Felshänge auf, welche das Tal hier begrenzen. Der Ganges, der hier wie ein breiter Wildbach daher kommt, rauscht nur hundert Meter weiter durchs Tal. Das Bachbett beginnt jedoch direkt vor dem Ashram. Vermutlich kann der jetzt gemässigte Fluss ganz schön anwachsen, wenn die Regenfälle des Monsuns in übermässig nähren. Am anderen Ufer steigt die Böschung steil an und ist hier dicht bewaldet.
Im Innenhof begrüsst mich die indische Form eines Samichlauses herzlich. Er ist kein Inder, wie ich sehe, obwohl er mit dem langen Bart und seinem Turban leicht mit einem verwechselt werden könnte. Er stellt sich als „Guru Sant“ vor, was ich mir nie werde merken können. „Du kannst mich auch einfach Sadi nennen“ und bietet mir einen Stuhl an. Neben den zahlreichen Handwerkern entdecke ich eine Inderin in wallendem orangen Sari, ein ebenfalls orange gekleideter zweiter Guru (indischer Abstammung) und ein älterer Herr anwesend, der allem Anschein nach der Besitzers der Anlage zu schein seint.
Sadi erklärt mir die Anlage und weist mich auf die einfachen Regeln hin. Ashrams haben manchmal ziemlich umfassende Richtlinien die zu beachten sind. Im Phool Chatti Ashram hält man es recht locker. Gegessen wird in der Gruppe und zwar um acht Uhr, zwölf Uhr dreissig und neunzehn Uhr dreissig. Dazwischen gibt es Tee um zwei und einen Indischen Gottesdienst um sieben, der aber freiwillig ist. Während dem Essen darf nicht gesprochen werden und die „Tenu“-Regel schreibt mindestens Shorts und Tshirt für Männer, Schulter und Bein bedeckende Kleidung für Frauen vor. Alles annehmbar, finde ich und lasse mir von Guru Sadi mein nettes Zimmerchen zeigen. Für dreihundert Rupien (etwa vier Franken) pro Tag inklusive aller Mahlzeiten kann man nichts sagen. Ich bin happy!
Essen im Lotus-Sitz
Ein Gong kündig die erste Mahlzeit an. Da ich keine Ahnung habe wie das hier abläuft, stelle ich mich einfach schüchtern in den Hof. Von überall kommen Inder mit rostfreien Tellern und Tassen gelaufen und setzten sich in den rechteckigen Essraum. Tische gibt es nicht. Nur zwei lange Matten die als Sitzgelegenheit den Wänden entlang ausgebreitet wurden. Alle setzen sich in zwei Reihen hin, die Teller und Tassen vor sich gestellt. Ich erhalte auch einen der einheitlichen Teller und setze mich irgendwo dazwischen. Die Inder sitzen alle in der Lotus-Stellung, also mit seitwärts angewinkelten Beinen, die Füsse jeweils auf dem Oberschenkel des gegenüberliegenden Beines.
Ich versuche es unter deutlichen Schmerzen ihnen gleich zu tun, komme aber auf keinen grünen Zweig. Wenn ich die Beine so anwinkle wie sie, kann ich mich nicht mehr aufrecht hinsetzen. Tue ich es nicht, stehen mir meine Knie im Weg und ich komme nicht mehr an den Teller ran. Unter deutlicher Anstrengung und einigen reichlich unreligiösen inneren Flüchen schaffe ich das eine Bein anzuwinkeln und das andere irgendwie auf die Seite zu biegen. So komme ich – wenn auch unter Schmerzen - fast an den Teller ran, der inzwischen mit diversen gelblichen und beigen Saucen, zwei Giabattis und Reis gefüllt wurde. Gegessen wird jedoch noch nicht. Man wartet auf irgend etwas. Plötzlich murmelt die Inderin im orangen Sari etwas laut vor sich hin und alle andern – ausser ich – antworten in Hindi auf den Singsang. Das war das Zeichen, man isst.
Ich versuche mich über die Speisen zu beugen um nicht alles vollzukleckern. Es geht nicht. Unmöglich. Ich bin nicht gelenkig genug und muss meinen Löffel in einem weiten Bogen vom Teller bis zum Mund führen. Natürlich versaue ich dabei nicht nur den Boden, sondern auch meine ganzen Beine. Mit peinlich verzogenem Gesicht schiele ich um mich, ob meine unprofessionelle Esstechnik von den Indern bemerkt wurde. Glücklicherweise sind alle andern nur eifrig mit ihren eigenen Tellern beschäftigt und keiner scheint meinen Fauxpas bemerkt zu haben.
Nach dem Essen kann ich zum Glück im Ganges baden und so die Spuren meiner alternativen Esstechnik den Göttern opfern. Das herrliche Nass riecht hier ausnahmsweise nicht und ist wunderbar erfrischend. Ein kleiner Sandstrand lädt zum faulenzen ein und die himmlische Ruhe verleiht dem Ort etwas magisches. Die Schmetterlinge sind auch hier allgegenwärtig. Wie Farbspritzer zieren sie das Ufer in den schillernsten Farben. Noch nie habe ich eine solche Menge unterschiedliche Schmetterlinge an einem Ort beobachtet. Wo so viele Schmetterlinge sind, kann es nichts böses geben, denke ich mir und pflanze mich auf meinem Handtuch in den warmen Sand. Morgen werde ich den berühmten Wasserfall hier in der Nähe erkunden!
Unter dem Wasserfall
Ein steiler Pfad führt mich in Mäandern den dicht bewaldeten Hang hinauf. Orange Pilze überziehen modrige Baumstümpfe die sich am Wegesrand still vor sich hin zersetzen. Die noch tief stehende Sonne wird vom linken Bergrücken abgeschirmt, doch die Luft ist trotzdem sehr warm und extrem feucht. Schnaufend und dampfend erreiche ich eine Weggabelung, an welchem ein hilfsbereites Individuum ein Kartonschild gebastelt hat, welches mich unbedingt nach rechts auf einen kleinen Morastpfad locken will. Jedenfalls wenn ich zum „W F“ will, was ich mit „Waterfall“ interpretiere. Ich vertraue dem Wegweiser und stapfe den feuchten Pfad entlang. Bald schon wird der Weg nicht nur bedeutend steiler, sondern zur zusätzlichen Herausforderung auch noch bedeutend glitschiger. Aus dem Morast wird hier abgerundeter Stein und zwar in solcher Gestalt, das die Schuhe auf keinen Fall Halt darin finden. Im Geiste sehe ich plötzlich Inder mit grossen Saugnäpfen an den Füssen die den Pfad locker barfuss erklimmen. Europäer in Wanderschuhen wie ich gleichen bei der selben Übung mehr einem Goofy in einem Zeichentrick der auf Glatteis läuft. Heftiges Rudern mit den Armen und unterdrückte Schreie helfen auch nicht viel um Höhe zu gewinnen und die Einzige Hilfe in der prekären Situation ist ein kleiner Bach, der mir nun plötzlich über den „Weg“ entgegen fliesst. Der Bach macht die Passage endgültig unpassierbar, es sei denn, man entwickle sich ein paar Millionen Jahre rückwärts und wechsle wieder in eine vierbeinige Gangart. Mit den Händen im dornigen Gestrüpp links und rechts vom Weg und mit den Füssen wild rudernd komme ich in bescheidenem Tempo voran und erreiche nach einiger Zeit tatsächlich den gesuchten Wasserfall. Dieser verschlägt mir zwar nicht gerade den Atem (dafür haben wir in der Schweiz einfach zu viele davon und erst noch um einiges grössere... aber man soll ja nicht vergleichen!) ist aber trotzdem ganz nett. Glücklicherweise habe ich vorgesorgt und bin bereits mit Badeshorts bewaffnet.
Fünf Minuten später stehe ich jubelnd unter dem kühlen Nass, das von ziemlich weit oben auf meinen Rücken donnert. Die Massage ist entsprechend heftig und erinnert mich sehr an die Düsen im heimische Solbad. Ausser das man hier nicht achtzehn Franken die Stunde dafür bezahlt!
Den Nachmittag verbringe ich am nahen Sandstrand am Ganges. Ich hätte wirklich nicht erwartet, das ich einmal Strandferien am Ganges verbringe, doch das kühle Nass und der herrlich feine Sand ist etwas vom besten was ich in Indien bisher gefunden habe. Zu verlockend um es nicht zu nutzen, auch wenn dabei die geplanten Meditationsübungen etwas kürzer treten müssen. Ich erfinde also kurzerhand die indische Strand-Meditation welche ganz einfach mit einem Handtuch und einem iPod durchgeführt werden kann und meditiere fleissig.
Natürlich kann ich trotz Meditation nicht lange ruhig liegen und erinnere mich bald der putzigen Steintürmchen, welche im Tessin so populär sind. Hier habe ich noch keinen einzigen dieser Türme gesehen. Etwas Kulturaustausch kann nicht schaden, sage ich mir, und ein paar Stunden später steht ein mannshoher Steinturm vor mir. Ich bin zufrieden mit meinem heutigen Tageswerk. Ein unbezwingbarer Wasserfall bezwungen, viel meditiert und einen Steinturm gebaut. Was will das Globetrotter-Herz mehr!
Neue Begegnungen
Im Ashram treffe ich auch auf verschiedene andere Reisende, die mehr oder weniger lang hier abgestiegen sind und das Leben in der ruhigen Kommune geniessen. Da wäre die amerikanische Masseurin, die aber bereits in über vierzig anderen Berufen gearbeitet hat – meisst gleichzeitig wie sie erläutert. Oder das israelische Pärchen, er Börsenmakler, sie Ärztin, welche bereits vor mir die glitschige Erfahrung mit dem Wasserfall gemacht und mich auch entsprechend davor gewarnt hatten.
Mit seinem langen, braun-weissen Bart sticht der amerikanische Guru Sadi natürlich unter allen hervor. Sein rein weisses, wallendes Gewand und der ebenfalls weisse Turban verstärken die ehrfürchtige Erscheinung noch. Ich will von ihm wissen, was er denn im Leben vor dem „Guru“ war. „Nun“ beginnt er zu erzählen „ich wuchs in sehr konservativen Verhältnissen in der USA auf. Meine Eltern waren sehr christlich und ich selber war diesbezüglich ebenfalls stark engagiert. In den späten sechzigern traf ich dann einen Sikh-Guru der die USA bereiste und Yoga-Unterricht gab. Ich war damals sehr von Yoga und der Lebensweise der Sikhs fasziniert und entschloss mich zu dieser Glaubensrichtung über zu treten. Mich interessierte allerdings weniger die damalige Hippie-Bewegung, als vielmehr eine sehr strikte Verfolgung der indischen Sikh-Glaubenslehre. Meine Eltern waren natürlich schockiert und mit meinem Vater habe ich nach Eröffnung meines Entscheides fünf Jahre nicht mehr gesprochen.
Damals war ich ein aktiver Gewehrchütze auf Olympia-Niveau. Ich wollte auch, selbst jetzt als Sikh, in die Armee eintreten, was damals eine grosse Diskussion auslöste. Ronald Reagan hatte gerade ein Gesetz wieder aufgehoben, welches den Sikhs erlaubte Militärdienst zu leisten. Denn die Sikhs sind bekannt für ihre kämpferischen Fähigkeiten und stellen einen Grossteil der indischen Armee, obwohl sie nur einer Minderheit im Land angehören. Ich war also, um darauf zurück zu kommen, ein absoluter Sonderling. Viele wollten ihren Armeedienst verhindern, ich wollte das genaue Gegenteil! Es wurde damals breit in der Presse debattiert.“
Er erzählt mir weiter von seinen zwei missglückten Eheschliessungen und wie er sein Dasein als Guru finanziert. „Weisst Du, ich war nicht schlecht im Geschäften und mit einundfünfzig habe ich nun genug Kapital um davon leben zu können. Man braucht nicht viel in Indien“ fügt er grinsend an und zieht bedeutsam die Augenbrauen hoch.
Schliesslich lerne ich auch noch Catharina und Walter aus Chile kennen. Beide sind bereits seit einem Jahr unterwegs und machen sofort einen aufgeschlossenen und sehr freundlichen Eindruck auf mich. Sie erzählen mir von Chile, welches über ein sehr ähnliches Klima wie die Schweiz verfüge. Dementsprechend ist es Catharina hier dauernd zu heiss. Walter scheint es hingegen nicht zu stören. Beide waren vorher in Thailand und erzählen mir begeistert von ihrer Reise. Ich müsse unbedingt den Sonntagsmarkt in Chiang Mai besuchen und dann auch hoch nördlich bis Chiang Rai reisen. Dort gäbe es einen wunderschönen Park, die Winterresidenz des Königs. Ich könne ja dann weiter über den Mekong Fluss nach Laos reisen, wobei ich unbedingt ein Boot nehmen und nicht aus versehen in einen Bus steigen soll. Die Busse seien katastrophal, die Boote dagegen sehr angenehm. Dann könne ich ja Richtung Süden und via Kambodscha wieder nach Bangkok zurück reisen. Ach ja, und ich solle unbedingt die Westküste und nicht die Ostküste bereisen, denn da sei während meiner Reisezeit Monsun. „Nicht noch einmal“, denke ich und nehme die ganzen Reisetips dankend entgegen.
Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Ha! Endlich bin ich wirklich Globetrotter, in guter Gesellschaft und mit tausend neuen Reiseplänen im Kopf. Davon hatte ich immer geträumt während ich alleine in Indien durch den Monsun tuckerte.
Am nächsten Morgen mache ich mich wieder auf zu meinem Maggia-Turm-Ganges-Meditations-Traumstrand und erlebe eine Überraschung. Jemand hat meinen Turm verschönert. Er ist nun mit Räucherstäbchen und rotem Tilaka (einem farbigen Pulver das oft bei religiösen Zeremonien Verwendung findet) verziert. Ich bin wohl gerade zum hinduistischen Schrein-Designer aufgestiegen.
Ich betrete den Innenhof der Anlage. Überall stehen Topfpflanzen. Ein grüner Garten, eingerahmt von leicht renovationsbedürftigen Mauern. Und renoviert wird gerade, wie ich dem Hämmern und Schleifen, Bürsten und Malen entnehme. Bald beginnen die öffentlichen Yoga-Kurse. Da will man vorher nochmals alles piekfein herausputzen.
Das Ashram erweckt den Eindruck einer freundlichen Pension mit riesigem Garten, der aber so dicht mit Bäumen besetzt ist, dass er nahtlos in die Umgebung übergeht. Nur getrennt durch eine niedere Mauer. Dahinter ragen steile Felshänge auf, welche das Tal hier begrenzen. Der Ganges, der hier wie ein breiter Wildbach daher kommt, rauscht nur hundert Meter weiter durchs Tal. Das Bachbett beginnt jedoch direkt vor dem Ashram. Vermutlich kann der jetzt gemässigte Fluss ganz schön anwachsen, wenn die Regenfälle des Monsuns in übermässig nähren. Am anderen Ufer steigt die Böschung steil an und ist hier dicht bewaldet.
Im Innenhof begrüsst mich die indische Form eines Samichlauses herzlich. Er ist kein Inder, wie ich sehe, obwohl er mit dem langen Bart und seinem Turban leicht mit einem verwechselt werden könnte. Er stellt sich als „Guru Sant“ vor, was ich mir nie werde merken können. „Du kannst mich auch einfach Sadi nennen“ und bietet mir einen Stuhl an. Neben den zahlreichen Handwerkern entdecke ich eine Inderin in wallendem orangen Sari, ein ebenfalls orange gekleideter zweiter Guru (indischer Abstammung) und ein älterer Herr anwesend, der allem Anschein nach der Besitzers der Anlage zu schein seint.
Sadi erklärt mir die Anlage und weist mich auf die einfachen Regeln hin. Ashrams haben manchmal ziemlich umfassende Richtlinien die zu beachten sind. Im Phool Chatti Ashram hält man es recht locker. Gegessen wird in der Gruppe und zwar um acht Uhr, zwölf Uhr dreissig und neunzehn Uhr dreissig. Dazwischen gibt es Tee um zwei und einen Indischen Gottesdienst um sieben, der aber freiwillig ist. Während dem Essen darf nicht gesprochen werden und die „Tenu“-Regel schreibt mindestens Shorts und Tshirt für Männer, Schulter und Bein bedeckende Kleidung für Frauen vor. Alles annehmbar, finde ich und lasse mir von Guru Sadi mein nettes Zimmerchen zeigen. Für dreihundert Rupien (etwa vier Franken) pro Tag inklusive aller Mahlzeiten kann man nichts sagen. Ich bin happy!
Essen im Lotus-Sitz
Ein Gong kündig die erste Mahlzeit an. Da ich keine Ahnung habe wie das hier abläuft, stelle ich mich einfach schüchtern in den Hof. Von überall kommen Inder mit rostfreien Tellern und Tassen gelaufen und setzten sich in den rechteckigen Essraum. Tische gibt es nicht. Nur zwei lange Matten die als Sitzgelegenheit den Wänden entlang ausgebreitet wurden. Alle setzen sich in zwei Reihen hin, die Teller und Tassen vor sich gestellt. Ich erhalte auch einen der einheitlichen Teller und setze mich irgendwo dazwischen. Die Inder sitzen alle in der Lotus-Stellung, also mit seitwärts angewinkelten Beinen, die Füsse jeweils auf dem Oberschenkel des gegenüberliegenden Beines.
Ich versuche es unter deutlichen Schmerzen ihnen gleich zu tun, komme aber auf keinen grünen Zweig. Wenn ich die Beine so anwinkle wie sie, kann ich mich nicht mehr aufrecht hinsetzen. Tue ich es nicht, stehen mir meine Knie im Weg und ich komme nicht mehr an den Teller ran. Unter deutlicher Anstrengung und einigen reichlich unreligiösen inneren Flüchen schaffe ich das eine Bein anzuwinkeln und das andere irgendwie auf die Seite zu biegen. So komme ich – wenn auch unter Schmerzen - fast an den Teller ran, der inzwischen mit diversen gelblichen und beigen Saucen, zwei Giabattis und Reis gefüllt wurde. Gegessen wird jedoch noch nicht. Man wartet auf irgend etwas. Plötzlich murmelt die Inderin im orangen Sari etwas laut vor sich hin und alle andern – ausser ich – antworten in Hindi auf den Singsang. Das war das Zeichen, man isst.
Ich versuche mich über die Speisen zu beugen um nicht alles vollzukleckern. Es geht nicht. Unmöglich. Ich bin nicht gelenkig genug und muss meinen Löffel in einem weiten Bogen vom Teller bis zum Mund führen. Natürlich versaue ich dabei nicht nur den Boden, sondern auch meine ganzen Beine. Mit peinlich verzogenem Gesicht schiele ich um mich, ob meine unprofessionelle Esstechnik von den Indern bemerkt wurde. Glücklicherweise sind alle andern nur eifrig mit ihren eigenen Tellern beschäftigt und keiner scheint meinen Fauxpas bemerkt zu haben.
Nach dem Essen kann ich zum Glück im Ganges baden und so die Spuren meiner alternativen Esstechnik den Göttern opfern. Das herrliche Nass riecht hier ausnahmsweise nicht und ist wunderbar erfrischend. Ein kleiner Sandstrand lädt zum faulenzen ein und die himmlische Ruhe verleiht dem Ort etwas magisches. Die Schmetterlinge sind auch hier allgegenwärtig. Wie Farbspritzer zieren sie das Ufer in den schillernsten Farben. Noch nie habe ich eine solche Menge unterschiedliche Schmetterlinge an einem Ort beobachtet. Wo so viele Schmetterlinge sind, kann es nichts böses geben, denke ich mir und pflanze mich auf meinem Handtuch in den warmen Sand. Morgen werde ich den berühmten Wasserfall hier in der Nähe erkunden!
Unter dem Wasserfall
Ein steiler Pfad führt mich in Mäandern den dicht bewaldeten Hang hinauf. Orange Pilze überziehen modrige Baumstümpfe die sich am Wegesrand still vor sich hin zersetzen. Die noch tief stehende Sonne wird vom linken Bergrücken abgeschirmt, doch die Luft ist trotzdem sehr warm und extrem feucht. Schnaufend und dampfend erreiche ich eine Weggabelung, an welchem ein hilfsbereites Individuum ein Kartonschild gebastelt hat, welches mich unbedingt nach rechts auf einen kleinen Morastpfad locken will. Jedenfalls wenn ich zum „W F“ will, was ich mit „Waterfall“ interpretiere. Ich vertraue dem Wegweiser und stapfe den feuchten Pfad entlang. Bald schon wird der Weg nicht nur bedeutend steiler, sondern zur zusätzlichen Herausforderung auch noch bedeutend glitschiger. Aus dem Morast wird hier abgerundeter Stein und zwar in solcher Gestalt, das die Schuhe auf keinen Fall Halt darin finden. Im Geiste sehe ich plötzlich Inder mit grossen Saugnäpfen an den Füssen die den Pfad locker barfuss erklimmen. Europäer in Wanderschuhen wie ich gleichen bei der selben Übung mehr einem Goofy in einem Zeichentrick der auf Glatteis läuft. Heftiges Rudern mit den Armen und unterdrückte Schreie helfen auch nicht viel um Höhe zu gewinnen und die Einzige Hilfe in der prekären Situation ist ein kleiner Bach, der mir nun plötzlich über den „Weg“ entgegen fliesst. Der Bach macht die Passage endgültig unpassierbar, es sei denn, man entwickle sich ein paar Millionen Jahre rückwärts und wechsle wieder in eine vierbeinige Gangart. Mit den Händen im dornigen Gestrüpp links und rechts vom Weg und mit den Füssen wild rudernd komme ich in bescheidenem Tempo voran und erreiche nach einiger Zeit tatsächlich den gesuchten Wasserfall. Dieser verschlägt mir zwar nicht gerade den Atem (dafür haben wir in der Schweiz einfach zu viele davon und erst noch um einiges grössere... aber man soll ja nicht vergleichen!) ist aber trotzdem ganz nett. Glücklicherweise habe ich vorgesorgt und bin bereits mit Badeshorts bewaffnet.
Fünf Minuten später stehe ich jubelnd unter dem kühlen Nass, das von ziemlich weit oben auf meinen Rücken donnert. Die Massage ist entsprechend heftig und erinnert mich sehr an die Düsen im heimische Solbad. Ausser das man hier nicht achtzehn Franken die Stunde dafür bezahlt!
Den Nachmittag verbringe ich am nahen Sandstrand am Ganges. Ich hätte wirklich nicht erwartet, das ich einmal Strandferien am Ganges verbringe, doch das kühle Nass und der herrlich feine Sand ist etwas vom besten was ich in Indien bisher gefunden habe. Zu verlockend um es nicht zu nutzen, auch wenn dabei die geplanten Meditationsübungen etwas kürzer treten müssen. Ich erfinde also kurzerhand die indische Strand-Meditation welche ganz einfach mit einem Handtuch und einem iPod durchgeführt werden kann und meditiere fleissig.
Natürlich kann ich trotz Meditation nicht lange ruhig liegen und erinnere mich bald der putzigen Steintürmchen, welche im Tessin so populär sind. Hier habe ich noch keinen einzigen dieser Türme gesehen. Etwas Kulturaustausch kann nicht schaden, sage ich mir, und ein paar Stunden später steht ein mannshoher Steinturm vor mir. Ich bin zufrieden mit meinem heutigen Tageswerk. Ein unbezwingbarer Wasserfall bezwungen, viel meditiert und einen Steinturm gebaut. Was will das Globetrotter-Herz mehr!
Neue Begegnungen
Im Ashram treffe ich auch auf verschiedene andere Reisende, die mehr oder weniger lang hier abgestiegen sind und das Leben in der ruhigen Kommune geniessen. Da wäre die amerikanische Masseurin, die aber bereits in über vierzig anderen Berufen gearbeitet hat – meisst gleichzeitig wie sie erläutert. Oder das israelische Pärchen, er Börsenmakler, sie Ärztin, welche bereits vor mir die glitschige Erfahrung mit dem Wasserfall gemacht und mich auch entsprechend davor gewarnt hatten.
Mit seinem langen, braun-weissen Bart sticht der amerikanische Guru Sadi natürlich unter allen hervor. Sein rein weisses, wallendes Gewand und der ebenfalls weisse Turban verstärken die ehrfürchtige Erscheinung noch. Ich will von ihm wissen, was er denn im Leben vor dem „Guru“ war. „Nun“ beginnt er zu erzählen „ich wuchs in sehr konservativen Verhältnissen in der USA auf. Meine Eltern waren sehr christlich und ich selber war diesbezüglich ebenfalls stark engagiert. In den späten sechzigern traf ich dann einen Sikh-Guru der die USA bereiste und Yoga-Unterricht gab. Ich war damals sehr von Yoga und der Lebensweise der Sikhs fasziniert und entschloss mich zu dieser Glaubensrichtung über zu treten. Mich interessierte allerdings weniger die damalige Hippie-Bewegung, als vielmehr eine sehr strikte Verfolgung der indischen Sikh-Glaubenslehre. Meine Eltern waren natürlich schockiert und mit meinem Vater habe ich nach Eröffnung meines Entscheides fünf Jahre nicht mehr gesprochen.
Damals war ich ein aktiver Gewehrchütze auf Olympia-Niveau. Ich wollte auch, selbst jetzt als Sikh, in die Armee eintreten, was damals eine grosse Diskussion auslöste. Ronald Reagan hatte gerade ein Gesetz wieder aufgehoben, welches den Sikhs erlaubte Militärdienst zu leisten. Denn die Sikhs sind bekannt für ihre kämpferischen Fähigkeiten und stellen einen Grossteil der indischen Armee, obwohl sie nur einer Minderheit im Land angehören. Ich war also, um darauf zurück zu kommen, ein absoluter Sonderling. Viele wollten ihren Armeedienst verhindern, ich wollte das genaue Gegenteil! Es wurde damals breit in der Presse debattiert.“
Er erzählt mir weiter von seinen zwei missglückten Eheschliessungen und wie er sein Dasein als Guru finanziert. „Weisst Du, ich war nicht schlecht im Geschäften und mit einundfünfzig habe ich nun genug Kapital um davon leben zu können. Man braucht nicht viel in Indien“ fügt er grinsend an und zieht bedeutsam die Augenbrauen hoch.
Schliesslich lerne ich auch noch Catharina und Walter aus Chile kennen. Beide sind bereits seit einem Jahr unterwegs und machen sofort einen aufgeschlossenen und sehr freundlichen Eindruck auf mich. Sie erzählen mir von Chile, welches über ein sehr ähnliches Klima wie die Schweiz verfüge. Dementsprechend ist es Catharina hier dauernd zu heiss. Walter scheint es hingegen nicht zu stören. Beide waren vorher in Thailand und erzählen mir begeistert von ihrer Reise. Ich müsse unbedingt den Sonntagsmarkt in Chiang Mai besuchen und dann auch hoch nördlich bis Chiang Rai reisen. Dort gäbe es einen wunderschönen Park, die Winterresidenz des Königs. Ich könne ja dann weiter über den Mekong Fluss nach Laos reisen, wobei ich unbedingt ein Boot nehmen und nicht aus versehen in einen Bus steigen soll. Die Busse seien katastrophal, die Boote dagegen sehr angenehm. Dann könne ich ja Richtung Süden und via Kambodscha wieder nach Bangkok zurück reisen. Ach ja, und ich solle unbedingt die Westküste und nicht die Ostküste bereisen, denn da sei während meiner Reisezeit Monsun. „Nicht noch einmal“, denke ich und nehme die ganzen Reisetips dankend entgegen.
Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Ha! Endlich bin ich wirklich Globetrotter, in guter Gesellschaft und mit tausend neuen Reiseplänen im Kopf. Davon hatte ich immer geträumt während ich alleine in Indien durch den Monsun tuckerte.
Am nächsten Morgen mache ich mich wieder auf zu meinem Maggia-Turm-Ganges-Meditations-Traumstrand und erlebe eine Überraschung. Jemand hat meinen Turm verschönert. Er ist nun mit Räucherstäbchen und rotem Tilaka (einem farbigen Pulver das oft bei religiösen Zeremonien Verwendung findet) verziert. Ich bin wohl gerade zum hinduistischen Schrein-Designer aufgestiegen.
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