Einige Tage verbringe ich bei meinen neuen Freunden aus dem Arakku Tal in der beim zweiten Blick doch attraktiven Küstenstadt Visakhapnam. Es ist halt schon ein Unterschied, ob man von einem Reisebuch, oder einem lokalen Einwohner geführt wird. Im Fall von Visakhapnam eröffnet mir neuerlicher Besuch und die kundige Führung Praveens und Zacks, meiner Gastgeber, interessante Ausflugsziele, Restaurants, Strände und einen schönen Zoologischen Garten. Ausserdem macht die allumfassende Indische Gastfreundschaft das Erlebnis zu einem sehr preiswerten Ereignis, was mir zwar nirgends recht, aber hier so üblich ist. Und zwar mit Nachdruck, wie mir Praveen immer wieder zu verstehen gibt.
Bei den zahlreichen Unternehmungen ergeben sich auch immer wieder interessante Gespräche. Vor allem mit Zack, der mir ja schon das Geheimnis um „you can scroll“ lüften konnte. Bei einem Besuch seines Elternhauses erzählt er mir, als ältester Sohn sei er nun für seine Familie verantwortlich und nehme das auch sehr ernst. Wenn er nach Hause komme, hätten gefälligst alle zu Hause zu sein. Gestern sei sein Vater nicht rechtzeitig vom „Ausgang“ nach Hause gekommen, weshalb er ihn heute hätte bestrafen müssen. Er hätte ihm die Hälfte seines Geldes und seine Busfahrkarte aus der Brieftasche genommen, womit er ihm den heutigen Ausgang gestrichen hätte. Ich finde diese Tradition eigentlich eine ganz gute Idee und werde das alles bei Gelegenheit mal mit meinen Eltern besprechen. Schliesslich bin ICH ja dann nach Indischen Gepflogenheiten nun auch das Familienoberhaupt und da Mama sich mit ihrem Hang zu Ayurveda eh an Indischen Traditionen orientiert, sollte der Fall damit klar sein und Papa hat künftig auch zu Hause zu bleiben!
Schon wieder Indische ZügeNach einigen Tagen will ich die Gastfreundschaft meiner neuen Freunde nicht weiter auf die Probe stellen und plane meine Weiterreise nach Puri. Dank Praveens schnellem Internet Zugang wird dies über die Internetseite der Indischen Bahn (für Indien-Reisende: http://www.irctc.co.in) diesmal zu einem wahren Vergnügen. Nichts mit Anstehen, Warten und Ärgern. Na ja, ein Bisschen zwar schon, den die Seite stürzt schonmal ab oder bringt nur die halben Daten und nur die wenig hilfreiche Meldung „Communication Error“. Nach einigen Versuchen habe dann aber doch die richtigen Züge gefunden und gebucht. Komischerweise sind sehr viele Züge nach Puri völlig ausgebucht und ich muss mich mit einer Warteliste begnügen. Ich wundere mich schon, warum das kleine Puri derzeit so begehrt ist. Es gelingt mir auch nicht eine Wartezeit bei einem Zwischenhalt zu verhindern, in dem ich wohl oder übel acht Stunden über Nacht auf den nächsten Zug warten muss. Doch ich bin ja gut orientiert und weiss das es so genannte „Rest Rooms“ am Bahnhof gibt, in denen man solche Wartezeiten einfach gemütlich „verschlafen“ kann.
Einige Stunden später werde ich gewahr, das gemeinerweise auch viele andere Reisende von diesen Rest Rooms wissen und leider schneller waren als ich. Die rundliche, mürrisch blickende Matrone am Eingang weist mich murmelnd in Richtung Wartesaal für Hochklasse-Reisende. Der ist zwar zumindest leicht klimatisiert und nicht ganz so überfüllt wie der restliche Bahnhof, aber in den Stühlen lässt sich unmöglich schlafen. Ich probiere es auf alle Arten und Weisen, still motiviert von den Indern die in den Stühlen um mich herum allesamt in friedlichen Schlaf versunken sind.
Ich schaffe es nicht. Stunde um Stunde verrenke ich mich mehr, um doch noch die ideale Position zu finden und endlich einzuschlafen. Halb liegend, mit dem Kopf auf der Rückenlehne, auf die Armlehne gestützt, nach vorne gebeut, Seitwärts sitzend, mit den Beinen auf dem Rucksack... keine Chance. Es lässt sich in diesen Sitzen nicht schlafen. Basta! Nicht für einen Europäer. Die Inder müssen eine Art variable Knochen haben, die bei Bedarf ihre Steifigkeit verändern und somit in jeder Positionen einen erholsamen Schlaf garantieren. Diese These würde auch die praktische Anwendbarkeit der Kamasutra erklären.
Nach einigen Stunden gebe ich es auf einschlafen zu wollen und schlafe ein. Kaum bin ich endlich ins sehnlichst erwünschte Traumland entschwunden, werde ich auch gleich wieder von einem sehr hilfsbereiten Aufseher geweckt. Ja wohin ich denn wolle. Ach nach Puri. Ja der Zug gehe um vier Uhr fünfzehn. Das sei nicht meiner? Ach so, meiner ginge um sechs Uhr. Ja dann sei ja noch Zeit. Allerdings!!! Viel Zeit!! So viel Zeit, das ich noch mindestens zwei Stunden hätte weiter schlafen können. Die kann ich mir jetzt aber ans Bein streichen, denn jetzt schaffe ich es definitiv nicht mehr nochmals einzuschlafen.
Zum Glück hat mein Zug nach Puri dann auch noch eine Stunde Verspätung, was mir aber egal ist denn es kommen dauernd Durchsagen von gecancelten Zügen und ich habe schon Angst, nochmals ein paar Stunden im Wartezimmer verbringen zu müssen. Um knapp viertel nach sieben fährt mein Zug dann endlich ein, ich ergattere meinen sehnlichst erwarteten Liegeplatz und bin nach zwei Minuten eingeschlafen. Nur zwei Ereignisse stören ab da meinen Schlaf. Der Schaffner der mein Ticket sehen will und der Bahnhof von Puri, der mich erfolgreich zum Aussteigen bewegt.
Ein überraschendes FestIm Bahnhof von Puri steigen erstaunlich viele Leute aus. Ich hatte so etwas wie Goa oder Hampi erwartet. Ein paar Tempel, zwei drei Touristen und ein paar vereinzelte Inder. Hier jedoch sind Massen unterwegs. Na ja, vielleicht ist ja ein Markt oder so etwas denke ich mir und suche eine Rikscha. Die werden hier teilweise noch mit reiner Muskelkraft betrieben. Meist von dürren Männchen, die schwitzend und kämpfend die Fahrrad ähnlichen Gefährte die Küstenstrasse entlangwuchten. Ich bin zwar froh nach dieser kurzen Nacht ohne Abendessen und Frühstück meinen riesigen Rucksack nicht zum Hotel schleppen zu müssen, aber der Rikschafahrer tut mir trotzdem leid. Ihm aber keine Arbeit zu geben wäre wohl auch verkehrt und somit erleichtere ich mein schlechtes Gewissen, indem ich ihm ein stattliches Trinkgeld bezahle.
Mein dicker Reiseführer empfiehlt in Puri das „Z“ Hotel. Der Name ist nicht nur bescheuert, sondern für Inder auch absolut unverständlich, weil sie den Buchstaben „Z“ nicht aussprechen können. Erst das auf die Hand gemalte Z hat bei meinem Rikschafahrer den Groschen zum Fallen gebracht. „Ahh, you mean Ssääääd Hotel!“ und schon bald stehe ich davor und kriege auch gleich ein schönes, günstiges, helles Zimmer mit Meerblick. Ein voller Erfolg. Die Menükarte des Restaurants weist sogar Käsetoast und Spaghetti auf und ich bin somit im Tramper Himmel.
Ich frage den Hotelier beim Einchecken, warum denn so viele Leute in Puri seien. Er blickt mich völlig entgeistert an. Ja ob ich denn das nicht wisse. Morgen werde hier das Wagenfest „Rath Yatra“ gefeiert, zu dem hunderttausende Inder erwartet werden. Ich hätte grosses Glück gerade jetzt hier zu sein. Oh ja, das habe ich allerdings. Erst jetzt lese ich im Reiseführer, das zu diesem Festival sämtliche Hotels restlos ausgebucht seien und man Züge schon Monate im voraus reservieren müsse, um überhaupt noch einen Platz zu ergattern. Das Glück ist offensichtlich mit den Unwissenden und ich schlafe schon kurze Zeit später in meinem gemütlichen, grossen Hotelbett zu sanftem Wellenrauschen ein.
Am nächsten Morgen lerne ich Boris kennen, einen Deutschen Ethnologie-Studenten, der in Indien eine Arbeit über Tribalismus schreibt und das Zimmer gleich neben mir gebucht hat. Boris erklärt mir, das an diesem Tag die Statuen der Götter Jagannath (einer Inkarnation Vishnus), seinem Bruder Balbhadra und seiner Schwester Subhadra mit riesigen, hölzernen Wagen vom Jagannath-Mandir Tempel in den etwa einen Kilometer entfernten Gundicha-Mandir Tempel gezogen würden. Dabei werden die schweren Statuen aus Stein wirklich physisch in die Wagen verladen und von hunderten Pilgern mit dicken Seilen die Hauptstrasse entlang gezogen.
Das Festival hat nicht nur einen religiösen, sondern viel mehr auch einen politischen Hintergrund. Die Tempel welche die Götter-Statuen normalerweise beherbergen sind nicht allen gläubigen Hindus zugänglich. Das Rath Yatra Festival ist die einzige Gelegenheit für sämtliche Gläubigen und sogar Touristen die Statuen zu Gesicht zu bekommen.
Auf ins Getümmel des Rath Yatra FestivalsIch rüste mich also mit möglichst nichts aus, um den sicherlich anwesenden Dieben keine Gelegenheit zu geben, mir die Freude am grossen Fest zu versauen. Ausserdem möchte ich so mitten rein ins Getümmel. Baden in den Massen. Feiern wie die Inder.
Ich folge vom Hotel einfach dem kontinuierlichen Menschenstrom. Nur bewaffnet mit meiner Kamera. Die Massen ziehen Richtung Strand, wo sie sich in rituellen Waschungen auf das Fest vorbereiten. Jedenfalls stelle ich mir das so vor, denn von den komplizierten Abläufen des Rath Yatra Festes habe ich keine Ahnung. Ich sehe nur viele Inder die sich ins Meer stürzen und sich umfangreich die Füsse waschen.
Danach geht es durch enge Gassen vorbei an nicht endend wollenden Süsswahren-, Stoff-, Haushalts- und Schmuckgeschäften. Am Rand der Geschäfte hocken duzende wenn nicht hunderte Bettler auf der dreckigen Strasse. Allesamt haben sie eine Schale mit Reis und vereinzelten Münzen vor sich stehen. Viele Pilger spenden den bedürftigen etwas Reis oder ihr Kleingeld. Die Bettler sind oft erschreckend verstümmelt und ihre Arm- und Beinstümpfe sind verbunden. Ohne genaue Kenntnisse Ihrer Krankheit erinnert mich dieses Bild doch sehr an die Lepra-Plakate, die manchmal auch in der Schweiz zu sehen sind. Etwas beschämt frage ich mich, ob da nicht etwas war mit einem Lepra-Mittel von Novartis, welches der Pharma-Gigant bis zur Ausrottung der Krankheit anscheinend kostenlos an Betroffene abgeben wollte. Diese Menschen hier sind offensichtlich noch nicht in Genuss dieser Hilfe gekommen. Oder etwa doch? Sind dies nur die unheilbaren Verstümmlungen der schrecklichen Krankheit?
Ein paar hundert Meter weiter verdichten sich plötzlich die Menschenmassen und am Ende der Gasse ist der mit rotem, gelben und goldfarbenem Stoff reich verzierte riesige Wagen auszumachen. Davon gibt es drei und die sind auf dem Platz hier am Eingang zur grossen Hauptstrasse „parkiert“. Da hier verschiedene Pilgerströme zusammentreffen, wird das Gedränge immer grösser. Es wird gedrückt und geschoben, gequetscht und gedrängelt. Die Luft ist unerträglich warm und scheint zu stehen. Durch die riesigen Menschenmassen hat sie eine Feuchtigkeit angenommen, die mir fast den Atem raubt und die mit unglaublicher Gewalt drängenden Menschenmassen verbessern diesen Umstand auch nicht gerade. Es liegt ein süsslicher, schwerer und leicht nach Indischen Gewürzen riechender Geruch in der bleiernen Luft. Ich versuche meinen Kopf noch etwas höher aus den Massen zu recken, aber die Luft ist da auch nicht viel besser.
Zum ersten Mal frage ich mich, ob es wirklich eine gute Idee war, sich gerade hier hinein zu wagen. Aber ich hatte es ja eigentlich gar nicht geplant und lasse mich somit einfach weiter schieben. Später erfahre ich, dass an dieser Stelle am Morgen sechs Personen im Gedränge ums Leben kamen. Vielleicht war es gut das ich es nicht wusste, denn so war das Erlebnis in den Indischen Massen für mich einfach nur spannend und nicht wirklich eine Bedrohung.
Nachdem ich wie ein Pingpongball auf rauer See wild umhergeschoben wurde, glücklicherweise immer rund einen Kopf über dem Indischen Durchschnittsbürger, lande ich ungewollt in einer Nebengasse in der das Gedränge sich auflöst und ich über einen Umweg etwas weiter vorne wieder in die Hauptstrasse einbiege. Hier sind die Massen zwar Umfangreich, aber durch die breite der Strasse ist das Gedränge nicht weiter schlimm. Ich mache mich auf die Suche nach einem geeigneten Haus mit Dachbalkon als Fotoplattform. Vor den ersten Häusern die ich anpeile stehen nette Menschen die weniger nette Vorstellungen von tausend Rupien (etwa fünfundzwanzig Franken) für eine Dachbesteigung haben. So viel Geld habe ich gar nicht dabei und lasse die unverschämten Abzocker dies auch wissen. Ich gehe weiter und entferne mich so von den Wagen, was sich auch auf die Dachbalkonpreise auswirkt. Bald sind es nur noch fünfhundert, dann dreihundert Rupien.. Ich ärgere mich, nur etwa hundert Rupien mitgenommen zu haben und gehe aufs nächste Gebäude zu. Ich habe zwar keine Ahnung um was es sich dabei handelt und ob man es überhaupt betreten darf. Es sieht aus wie die Mischung zwischen Hotel und Tempel, aus dunkelbeigem Sandstein. Niemand hindert mich am Betreten und ein freundlicher Polizist im Innenhof organisiert mir auch kurzentschlossen eine Erlaubnis zum Besteigen des riesigen Daches. Kostenlos! Na also, es braucht manchmal nur etwas Geduld. Das war ja auch bei der Eisenbahn schon so.
Kurze Zeit später vertreibt ein beleibter Inder mir ein paar Halbwüchsige von einem Balkonvorsprung und verschafft mir damit einen wahrlichen Logenplatz zum Fotografieren. Dies, nachdem ich ihm etwas meine Spiegelreflex-Kamera erklärt hatte und ihn sogar ein paar mal durch mein Zoom-Objektiv durchschauen liess. Solche Dinge verschaffen einem in Indien schnell Freunde und wie ich wieder einmal feststellen musste sind Freunde in Indien sehr hilfreich.
Von meinem Logeplatz aus kann ich die ganze Hauptstrasse mit den rund fünfhundert tausend Menschen überblicken, die in allen erdenklichen Farben unter mir dahin wuseln. Zwischen den unglaublichen Massen versuchen Ambulanzen ihren Weg durch die Massen zu pflügen. Angeführt von joggenden Polizisten welche die Menge zur Seite drängen. Fast im Minutentakt werden so kollabierte Pilger vom Platz geschafft.
Pünktlich um vier geht es richtig los. Mit lautem Getöse wird der rund vierzehn Meter hohe Hauptwagen die Strasse entlang gezerrt. An vier schenkeldicken Tauen hängen viele hundert Pilger und Tempelangestellte und reissen im Kommando des Wagenführers das schwere Gefährt vorwärts. Immer wenn es sich bewegt jubelt und schreit die ganze Masse und der mit hinduistischen Priestern gefüllte Wagen feuert sie mit lauter Musik an. Die ganze Szene hat etwas unglaublich chaotisches, was aber doch von einer kaum erkennbaren Ordnung überdeckt zu sein scheint. Das Festival ist fast sinnbildlich für Indien, mit seiner unüberschaubaren Masse an Völkergruppen, Kasten und Sprachen die doch irgendwie alle in einem Land vereint zu sein scheinen. Boris erläutert mir jedoch später, das dieser nationalistische Gedanke nach wie vor durchaus sehr umstritten sei und eher durch die Portugiesen und später Briten geprägt wurde. Vorher sei Indien in viele Königreiche (ähnlich den Deutschen Fürstentümmern) aufgeteilt gewesen. Auch heute noch hätten die Indigenen Völker für sich den Anspruch auf Königlichkeit, was jedoch natürlich auf deutliche Ablehnung beider regierenden Oberschicht Indiens trifft. Diese würde die Indigenen Völker lieber mit gebundenen Subventionen, zum Beispiel zur Entwicklung des Ananas -Anbaus, unterstützen und damit in ein Angestelltenverhältnis drängen, in welchem die Hierarchien rein schon aus kommerziellen Gründen klar gegeben sind.
Im Getümmel des Rath Yatra Festivals ist von alle dem jedoch nicht viel zu erkennen. Das Fest verläuft gemäss meinem Eindruck weitgehend friedlich und die kunterbunte Menschenmassen feiern gemeinsam ihre Gottheiten und ich habe meinen Spass im ganzen Tohuwabohu.