Der heutige Tag ist wieder mal völlig anders verlaufen als geplant. Er wird mir sogar in schmerzlicher Erinnerung bleiben. Aber dazu später mehr. Markus und ich haben heute unseren zweiten und letzten Pilger-Wanderungstest absolviert. Der erste erfolgreiche Test hätte ja purer Zufall sein können, also mussten wir ein zweites mal los und unsere Pilgertauglichkeit mit Vollpackung auf die Probe stellen.
Der Tag begann diesmal allerdings eher bescheiden, um nicht beschissen schreiben zu müssen. Ich hatte am Vorabend zwar all meine schönen Wander- und Pilgerutensilien bereitgelegt, aber ich wollte den Rucksack erst am Morgen packen. Schliesslich müssen da ja noch die Bratwürste rein. Und die sind ja jetzt noch im Kühlschrank. Das mein Rucksack nicht in den Kühlschrank passt ist klar und die Würste über Nacht einfach an der Wärme zu lassen traue ich mich nicht. Die haben eh schon grüne Pünktchen. Das Etikett behauptet zwar das sei Bärlauch, aber wer glaubt schon dem Etikett!
Um die missliche Packsituation zu lösen, stehe ich am nächsten Morgen zu nachtschlafender Stunde (halb neun Uhr) auf und packe alles ein. Und gleich wieder aus. Mein Rucksack will nicht zu. Ich habe alles versucht. Stopfen, würden, drauf sitzen, zerren, vakuumieren, komprimieren… er – geht – nicht - zu! Ich begreife die Welt nicht mehr, denn vor ein paar Wochen ging das noch und da hatte ich genau gleich viel dabei. Aber da der Rucksack von uns beiden der störrischere ist (und das will etwas heissen!) versuche ich das Problem zu umschiffen, was mir nach einer weiteren halben Stunde packgebastel endlich gelingt.
Inzwischen ist mein Bus natürlich schon weg und der letzte um knapp pünktlich zu sein fährt in sieben Minuten. Dabei wollte ich extra früh am Treffpunkt sein, um Markuses kein neues Futter für sein notorisches Pünktlichkeitsgehabe zu liefern. Mit viel Glück komme ich aber doch noch rechtzeitig beim Treffpunkt an aber Markus ist nirgends. Na toll! Ich hetz mir hier die Seele aus dem Leib und „dör Hörr“ liegt sicher noch wohlig in den Federn. Mitten im Gefluche schellt mein Natel und Markus fragt mich, ob ich die SMS nicht gekriegt habe, welche er mir vor einer halben Stunde geschickt hätte. Er wolle noch eine Latte Machiato trinken. Ich kwängele genervt rum, lasse mich aber dann doch überrede. Kaffee hilft ja vielleicht meine bescheidene Laune aufzubessern. Nach dem Auflegen sehe ich, dass die SMS tatsächlich angekommen ist… grad eben und mit einer halben Stunde Verspätung. Na das fängt ja toll an!
Nach dem verspäteten Morgenessen geht dann aber plötzlich alles ganz flott. Im Nu stehen wir vor dem imposanten Bau des Benediktinerklosters Mariastein. Wir finden, wir hätten nun unseren ersten Pilgerstempel verdient und ein netter Stempelmönch drückt uns auch tatsächlich einen wunderschönen Abdruck in unseren jungfräulichen Pass, nicht ohne uns viele gute Tipps mit auf den Weg zu geben. Leider sind in der Kirche nicht alle so zuvorkommend wie unser Mönch, denn schon kurze Zeit später werde ich von einer älteren Dame mit einem Stock quasi aus der Kirche geprügelt. Irgendwie hatte ich das mit der Nächstenliebe und Barmherzigkeit anders erwartet, aber man lernt ja nie aus.
Markus hat Hunger. Dabei haben wir den Latte Machiato samt Gipfeli noch nicht mal richtig verdaut. Aber ich will ja nicht so sein und so sitzen wir kurz danach unter den wachenden Blicken von einem Jesus am Kreuz bei Laugensandwich mit Fleischkäse und Senf. Das gibt uns die Kraft, kurz danach einen weiteren Hügel unbeschadet zu überklettern. Die heutige Wanderung scheint jeglichen Hang zur Horizontalen verloren zu haben. Es geht nur fast senkrecht hinauf und kurz danach nicht minder steil wieder hinunter. Wir nehmens gelassen und gackern vor uns hin:
Markus: „Du chasch mit nit zwinge vo Zwinge nach Laufe z’laufe“
Sandro: „Du bisch do ä fertige Kleilützel!“
Markus: „.. und Du bis ä Hofstetter, ä blöde!“
Beide: „*gacker*“
Schon bald genehmigen wir uns unser etwas spätes Mittagessen (inzwischen ist es kurz vor vier) und verspeisen unsere Würste. Meine grün gepunktete Bratwurst wird auf dem Grill komischerweise nur grau. Vielleicht hätte ich sie doch schon am Vorabend einpacken sollen. Aber sie schmeckt dann doch besser als sie aussieht und hilft mir, danach mühelos bis Laufen zu laufen. Markus hat da allerdings genug und wir beschliessen, uns nun fürs erste zu trennen. Bis zur wirklichen Pilgerroute nach Santiago de Compostela werden wir nicht mehr gemeinsam pilgern. Und da ich das erste Stück des Jakobswegs alleine begehe, ist unser Abschied hier fast sinnbildlich.
Wohin soll ich nun? Der Wegweiser schmeisst mir lauter Ortschaften entgegen, die ich noch nie gehört habe. Ausser einer Ortschaft ganz am Schluss, Delémont.
Die hat auf jeden Fall einen Bahnhof wo am Sonntag spät noch ein Zug fährt. Aber Delémont ist noch vier Stunden entfernt! Vier Stunden!
Na egal, es schadet sicher nicht, wenn ich mich schon vor dem Jakobsweg etwas an meine persönlichen Grenzen heranwage. Zwei Stunden später begreife ich mich nicht mehr und schon gar nicht dieses Grenzerfahrungsgefasel. Irgendwann tut mir nach und nach plötzlich alles weh. Angefangen mit Händen und Füssen, welche sich plötzlich in aufgeblasene Zeppeline verwandelt haben. Ganz schlimm sind die Füsse. Da Zeppeline in Schuhen zu klaustrophobischen Anfällen neigen, fühlte sich jeder Schritt an, als wandle ich barfuss in einem ausgetrockneten, steinigen und glühend heissen Bachbett. Wobei laufen auch nicht ganz der richtige Begriff dafür ist. Meine dumpfen Knie eiern bei jedem Schritt schrecklich umher was meiner Gangart die Eleganz einer besoffenen Giraffe verleiht. Erst als ich beinahe auf eine ansehnliche Schlange zutorkele, verhilft mir das freigesetzte Adrenalin wieder eine einigermassen erkennbare Richtung einschlagen zu können.
Nachdem mir neben den Füssen praktisch jeder mit nerven bestückte Teil meines Körpers wehtut - speziell wenn er mit irgendeinem Teil des Rucksacks in Berührung kam - sehe ich plötzlich einen erlösenden Brunnen vor mir. Wasser ist gut! Wasser hilft immer und so fülle ich meinen Wassersack mit annähernd 2.5 Liter frischen Brunnenwassers. Leider sind das auch wieder 2.5kg zusätzliche Rucksacklast, was mir den Glauben an das Gute im Wasser gleich wieder nimmt. By the way… rund zwei Liter des Brunnenwassers habe ich erst zu Hause ausgeleert. Ich hatte unterwegs keinen Durst mehr. Soviel zum gesunden Menschenverstand.
Eiernd und total geschafft komme ich nach einer letzten Brückenüberquerung dann doch noch in Delémont an und springe beinahe von der Brücke. Ein letzter Wanderwegweiser will mir weismachen, dass es zum Bahnhof „nur“ noch 25 Minuten Gehzeit ist. Ich latsche doch nicht vier Stunden nach Delémont um dann in dem blöden Kaff nochmals fast eine halbe Stunde zum Bahnhof zu wackeln! Das ist nicht fair. Es fährt kein Bus, es gibt hier kein Tram, es hält kein Auto. Es gibt gar nichts, ausser mir, meiner eiernden Knie und einer langen geraden Strasse.
Ich habe es schliesslich doch noch geschafft! In kürzerer Zeit und mit grösseren Schmerzen als ich dachte. Ich habe selten in so freudiger Erwartung einem Bahnhof entgegengefiebert und mein schmerzvolles und unabsichtliches Bussetun wurde mit einem perfekten Timing belohnt. Schon 12 Minunten später raste ich den ganzen Weg nach Laufen und Basel zurück. Nur diesmal im Sitzen und ohne Mühe. Auf nach Santiago de Compostela. Ich bin bereit!