Mittwoch, 4. Juni 2008

Unterwegs in Mumbai

In meinem ersten Hotel ist es heiss, was sich später als allgemein gültige Tatsache ergeben wird. Ich habe ja auch keine Klimaanlage bestellt. Schliesslich muss ich sparen und die vier Franken extra waren meine erste Aktion in diese Richtung. Irgendwie werde ich es schon aushalten, denke ich mir und dampfe wie ein nasses Rinozeross an der Sonne. Es ist zwei Uhr morgens und gemäss meiner Uhr mit Thermometer genau 29.7 Grad warm. Während ich noch überlebe wie ich das aushalten soll, bin ich auch schon eingeschlafen und erwache erstaunlich erholt am nächsten Morgen.
Die ersten zwei Tage verbringe ich damit, die Stadt und die fremde Kultur auf mich wirken zu lassen. Es ist unglaublich laut in Mumbai. Eigentlich sind hier alle Sinne ständig überlastet, nicht nur das Gehör. An jeder Ecke riecht es unterschiedlich und fast immer intensiv. Nicht generell unangenehm, wie ich erst befürchtet hatte, nur intensiv. Intensiv nach Curry, Urin, Müll oder Korreander. Meistens alles gemischt und in Schwaden. Wie Wellen brechen die Gerüche über mich herein. Mal wird mir fast schlecht dabei, dann geniesse ich es plötzlich wieder.

Ähnlich geht es mir mit der Masse an Menschen, die unaufhaltsam durch die Strassen Mumbais quetschen, schieben, rennen, schlendern, drängen. Unglaubliche Menschenmengen, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. An jeder Ecke werde ich angesprochen. „Buy this, very good price“. „Please give me money“. „Buy big balloon - bumm“. Ich bin distanziert, überfordert und darum unfreundlich. Entgegen meinem kontaktfreudigen Wesen wimmle ich alle ab. Es ist zu viel und ich kann noch nicht freundlich damit umgehen. Innerlich entschuldige ich mich bei den Inderinnen und Indern dafür. Nein, ihr seit nicht unerwünscht, ganz im Gegenteil. Ihr seit nur gerade etwas zu viel für mich.

Ich gehe an einem nackten Kind vorbei, welches auf dem blanken Boden des Gehsteigs liegt. Es ist vielleicht zwei Jahre alt, schätze ich. Es schläft, als wäre der Gehsteig wunderbar weich und behaglich. „Wird es morgen Schmerzen haben wenn es aufwacht?“ denke ich mir. „Soll ich seiner Mutter Geld geben? Oder ich könnte die ganze Familie in mein Hotelzimmer einladen, schliesslich hat es da noch drei Betten frei!“. Ich verdränge den Gedanken gleich wieder. Ich kann den Menschen hier nicht helfen. Nicht allen. Nicht diesem Kind hier auf der Strasse, nicht jener alten Frau dort, die gerade den Müll durchwühlt. Es sind einfach zu viele. Ich komme mir schäbig vor mit meinem zweieinhalb tausend Dollar Laptop im Rucksack. Wie lange könnte wohl eine Familie hier mit diesem Geld überleben? Drei Jahre? Gar vier?

In den Massen
Einige Strassen weiter wird das Quartier nobler. Ich bin im Kreis des „Gateway of India“. Dem Wahrzeichen von Mumbai. Einem riesigen Basaltbogen der sich am Rande des Meeres auftürmt. Das ganze Viertel wird gerade renoviert. Duzende Steinmetze hämmern auf dem Platz vor dem Triumphbogen an den Steinen für den neuen Bodenbelag. Sie haben Türen als Schattenspender hinter sich aufgestellt. Rhythmisch überdeckt das Hämmern den ständigen Geräuschteppich Mumbais. Auch hier auf dem Platz ist es wieder unerträglich heiss. Die Massen um den Gateway scheinen die Hitze noch zu verstärken. Ich flüchte ins nahe LavAzza Café und bestelle mir einen Café Latte Freeze. Was für ein Kontrast zum überhitzten Mumbai.

Später fahre ich an den Chowpatty Beach, einem beliebten Erholungsort der lokalen Bevölkerung. Der Strand ist von Müll übersät doch trotzdem drängen sich dort tausende von Badegästen und Ausflüglern zusammen. Inder folgen einem stetigen Herdentrieb, egal wie laut oder vermüllt der Ort gerade ist. Inmitten der Massen macht sich langsam ein neues Gefühl in mir breit. Ich fange langsam an zu ahnen, was den Inder so magisch anzieht und aneinander drängt. Ganz sachte fühle ich die Geborgenheit in der Masse. Eine kollektive Freundlichkeit die alles andere überdeckt. Der Lärm verschwindet und ich kann mich einfach treiben lassen. All die versteckten Ängste driften sanft in den Hintergrund. Die Angst bestohlen zu werden, etwas falsch zu machen, nicht zu verstehen, reich zu sein. Grinsend treibe ich in den Massen. Da und dort grinst ein Gesicht zurück.

Plötzlich packt mich eine Frau und deutet mir mit ausladender Gebärde an geradeaus zu blicken. Ich starre verwirrt ins Objektiv einer Kompaktkamera. Die dicke Indische Mama dirigiert ihren Sohn rechts und die Tochter links neben mich. Dann soll ich Lachen. Ich weigere mich nicht, denn ich will mich ja den Gepflogenheiten anpassen. Aber was soll ich wildfremder Tourist denn auf dem Familienfoto? „Where do you come from?“ will die Mama von mir wissen. „Switzerland“ antworte ich brav. Dann sind sie plötzlich alle weg. Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt, merke aber schon bald, dass das nicht das einzige Erlebnis dieser Art bleiben wird. Auf mindestens drei weiteren Familienbildern werde ich Zwangsintegriert. Und immer ist die Frage meines Herkunftslandes von entscheidender Bedeutung. Langsam habe ich das Gefühl, es hier mit einer Art Trophäenjäger-Brauch zu tun zu haben. Ich nehme mir vor beim nächsten mal jemanden zu fragen.

Elephant Island ohne Elefanten
Wie jeder Tourist besuche ich „Elephant Island“, eine vorgelagerte Insel mit riesigen, von Menschenhand in den Stein gehauenen Höhlen. Darin sind viele sehr alte Shiva-Statuen zu finden, unter anderem auch die Indische Version der Dreifaltigkeit, die Trimurti. Gott wird als Zerstörer, Erhalter und Schöpfer dargestellt. Ich staune über die Künstler, die in einer solchen Affenhitze solch grossartige Skulpturen in den blanken Stein meisseln konnten. Und ich begreife nun auch das Wort Affenhitze besser, denn Affen sind in diesem Brutofen wirklich die einzigen Bewohner. Ausgenommen von ein paar heiligen Kühen die ich plötzlich versteckt in den Höhlen entdecke. Sind diese heiligen Kühe nun hier in den heiligen Stätten weil sie heilig sind, oder nur weil es her ein paar zehntel Grad kühler ist? Und was fressen heilige Kühe in heiligen Stätten? Gar nichts! Sie wiederkäuen, wie ich nach umfangreicher Studie festgestellt habe.

Nach einigem Umhertapsen finde ich einen Weg auf den „Cannon Hill“. Nur sieben Minuten sollen es bis dort oben sein. Das schaffe ich doch glatt, denke ich mir. Ich habe die Rechnung aber nicht mit der örtlich herrschenden Standardtemparatur gemacht, welche bei jedem Schritt in Richtung Gipfel ebenfalls zu steigen scheint. Ich war ganz bestimmt noch nie an einem so heissen Ort, ausgenommen der Finnischen Sauna in Rheinfelden. Die Luft steht. Keine Spur mehr von dem rettenden Lüftchen, welches wenigstens an der Küste die Hitze noch einigermassen erträglich machte. Hier oben ist es einfach nur noch heiss. Mein Tshirt klebt an mir wie die Schutzfolie auf einem neuen Display. Ich keuche und schnaufe, doch es wird nicht besser. Zentimeterweise schleiche ich dem Gipfel entgegen. Ich scheine hier der einzige Tourist weit und breit zu sein. Habe ich irgend ein Schild übersehen? Nicht geeignet für Europäer oder so? Sie werden schmelzen und zurück ins Tal fliessen? Gehen sie nicht ins Licht?

Ich begegne einigen Indischen Touristen und sie gratulieren mir. Wofür? Ich habe keine Ahnung, aber ich denke dass es mit meiner Besteigung zusammen hängen muss. Irgendwie macht es mir auch Mut und nach vielen weiteren mühsamen Minuten (von wegen sieben,... nicht für einen Europäer!) bin ich endlich oben. Der Blick ist überwältigend. Im Westen liegt der riesige Hafen von Mumbai vor mir und die Skyline zieht sich fast von Horizont zu Horizont. Ich geniesse den Anblick, halte es aber nicht zu lange aus, denn es ist einfach zu heiss. Ich kann das ganze ja später auf den Fotos bewundern. Hinter einem kühlen Bier oder so.

Die Rückfahrt mit dem „Deluxe“ Boot (wo genau der Unterschied zu den Standard-Booten sein soll habe ich nicht herausgefunden) ist wenig ereignisreich, wenn auch dank des leichten Lüftchens nun wenigstens temperaturmässig wieder erträglich. Der Kapitän gibt über Funk Klingelzeichen an den Maschinenraum. Zwei „Ping“ bedeutet langsame Fahrt voraus. Drei „Ping“ heisst rückwärts. Doch so sicher bin ich mir nicht, denn zwischendurch klingt es wie auf einem Jahrmarkt. Wie der Maschinist dieses Gebimmel entschlüsseln kann ist mir ein Rätsel. Doch irgendwie scheint dieser damit gut klar zu kommen und wir landen sicher wieder zurück im Hafen vor dem „Gateway of India“.

Ein neues Hotel
Meine Reisegeizigkeit nimmt langsam bedenkliche Formen an und darum habe ich mir auch schon nach zwei Tagen ein neues Hotel gesucht, welches nur noch halb so teuer ist. Dafür mit Gemeinschaftsbad und Toilette und ohne WC-Papier. Wenn man nicht danach frägt, was ich dann doch gemacht habe. Man lernt ja dazu. Weiterer Kommentar ausgeschlossen.
Mein neues Zimmer liegt direkt über dem streng befahrenen Coloba Causeway, was sich mit ununterbrochenen Hup-, Ruf-, Motoren-, Triller- und Sirenengeräuschen bemerkbar macht. Ich lese einen Text von Krishnamurti in welchem er über das „Zuhören“ sinniert. Ja, auch über das Zuhören einer Strasse. „Nur wer sich zwischen das Geräusch und sich selber stellt, der wird es als unangenehm empfinden.“. Oder so ähnlich, ganz genau kann ich mich nicht erinnern, denn ich bin dabei tatsächlich eingeschlafen und habe mich sogar wunderbar erholt. Trotz dem ganzen Lärm und Gestank habe ich bis zehn Uhr morgens durchgeschlafen. Wo gibt es denn sowas? In Mumbai. Dank Krishnamurti!

Als ich dann endlich, wenn auch etwas verschwitzt – und dies trotz dem ich wieder einmal im Adamskostüm und ohne Decke genächtigt habe – aufwache, wird mir schlagartig eine Veränderung bewusst. Hinter dem dunklen Fenster am Kopfende meines Bettes, welches mir in der letzten Nacht sehr friedvoll und vor allem unbelebt erschienen ist, befindet sich nun ein durchaus helles und rege bevölkertes Büro. Vermutlich bin ich hier schon seit Stunden den Blicken einer beachtlichen Besucherschicht ausgestellt, wovor mich auch Krishnamurti nicht retten konnte. Ich mache ein Gesicht wie eine Zitrone und ziehe den Vorhang. Morgen gehts ab nach Goa!

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